Filmkritik
Wo ist Anne Frank?
Animationsfilme besitzen die Fähigkeit auf ihre eigene magische Art, das Unsagbare in Bildern auszusprechen. Und so berührt Ari Folman in seinem Film Wo ist Anne Frank die Zuschauer:innen auf eine ganz besondere Weise. Es entfaltet sich eine neue Perspektive auf die bekannte Geschichte des mutigen jüdischen Mädchens.
“Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei
Anne Frank, 12. Juni 1942
niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große
Stütze sein.“
Zu ihrem 13. Geburtstag bekommt Anne Frank ein rot-weiß kariertes Tagebuch geschenkt. Auf den weißen Seiten verewigt das junge Mädchen ihre innigsten Gedanken, Gefühle und Erlebnisse. Zwischen ihren eigenen Zeilen findet Anne eine beste Freundin, der sie alles anvertrauen kann. Diese Freundin nennt Anne: Kitty.
Anne, wo bist du?
Der Film beginnt 2019, an einem stürmischen Morgen in Amsterdam. Vor dem Anne-Frank-Haus, sammeln sich die Tourist:innen um ins Museum zu gelangen. Die Vitrine mit dem Tagebuch zerspringt und ein Tropfen Tinte benetzt die vergilbten Seiten. Ein junges Mädchen mit roten Haaren wächst aus den Buchstaben. Auf der Kinoleinwand erwacht Kitty, die imaginäre Freundin von Anne zum Leben. Verwirrt begibt sie sich auf die Suche nach ihrer einzigen Bezugsperson: Anne Frank. Verzweifelt ruft sie in den leeren Raum: “Anne, wo bist du?”
Es sind diese ersten Momente, die die Atmosphäre des Films bestimmen. Die Zuschauer:innen wissen bereits um das tragische Schicksal der Anna Frank. Trotzdem ist es kaum möglich, sich dem Sog der Hoffnung zu entziehen, mit dem die Protagonistin durch die filmische Gegenwart rauscht. Kitty bildet dabei ein lebendiges Bindeglied zwischen ihren Erinnerungen an Anne und den neuen Herausforderungen in der modernen Stadt Amsterdam. Obwohl ein Wiedersehen aussichtslos erscheint, gibt es viele Momente der Freude und Zuversicht.
Animation, die den Atem raubt
Mit fantastischen Animationen, die vom ersten Moment an das Publikum in ihren Bann ziehen, schafft es der Film eine Geschichte, die jede:r bereits kennt, neu zu erzählen. Gerade die Möglichkeit zeichnerischen Mittel voll auszuschöpfen erlaubt es dabei, die Fantastik der Gedanken von Anne Frank bildhaft auf die Leinwand zu bringen. Dadurch ensteht eine besonders enge Bindung zwischen dem geschriebene Wort Annes und den gezeichneten Bildern. Eindrucksvoll erscheinen vor allem die riesigen Schemen der gesichtslosen Nazis, die in ihrer Konformität und Ausdruckslosigkeit nichts Menschliches mehr an sich haben. Die Angst vor den nationalistischen Schergen wird durch diese Art der Darstellung erfahrbar für das Publikum.
Lebendige Erinnerung
Die Begegnungen Kittys in der Gegenwart und die Freundschaften, die sie dabei schließt, erlauben es der Geschichte einen lebendigen Rückbezug zur Vergangenheit aufzubauen. Die verstaubte Erinnerungskultur der Museen und Memorabilien wirkt im Film etwas leblos und wird lediglich als Touristenmagnet inszeniert. Die Menschenmassen schlendern durch das ehemalige Versteck der Familie Frank und verschwimmen dabei zu einer gelangweilten Masse. Dieser Kritik versucht Wo ist Anne Frank? direkt einen Lösungsansatz mitzuliefern. Durch die lebendige Brückenbildung zwischen Gegenwart und Vergangenheit schafft der Film einen modernen Ansatz der Erinnerung, der nicht auf leblosen Fakten allein basiert, sondern einen emotionalen fantastischen Zugang sucht. Die Problematik an diesem Ansatz wird dabei allerdings schnell offensichtlich, da den Zuschauer:innen nicht sofort ersichtlich werden kann, ob es sich um eine historischen Fakt oder ein kreatives Element handelt.
Animationsfilm sucht seinen Platz
Wo ist Anne Frank ist ein Animationsfilm, der für alle Generationen ausgelegt ist. Seine tragische Tiefe erlangt der Film auch durch das tatsächliche Schicksal der Anne Frank. Die Verfolgung der Juden und Jüdinnen durch das Dritte Reich mag heute mit der schwindenden Zahl der Zeitzeug:innen in den Hintergrund der gesellschaftlichen Bedeutung rücken. Wachsender Antisemitismus und Rassismus gegenüber Geflüchteten zeigt einmal mehr, dass diese Kapitel der Geschichte nicht nur in unserer Vergangenheit liegen. Wo ist Anne Frank zeigt auf eine eindrucksvolle Art wie wichtig es ist, die Vergangenheit nicht zu vergessen und sie in uns lebendig zu halten.
Wo ist Anne Frank läuft ab dem 23. Februar in den Kinos.