Buchkritik

Wer ist das andere Mädchen?

/ / Bild: © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Die französische Autorin Annie Ernaux wurde dieses Jahr mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Wie ihre meisten Werke ist das jüngst erschienene Buch “Das andere Mädchen” ebenso autobiografisch geprägt. Auf rund 70 Seiten begibt sie sich auf die Suche nach ihrer verstorbenen Schwester.

Auf dem Cover ist verblasst das Foto zu sehen, welches die Autorin zu Beginn beschreibt.

Das Buch beginnt mit der Beschreibung eines verblichenen Fotos. Das einzige Bild, das der Autorin von ihrer großen Schwester geblieben ist. Mit zwölf Jahren erfährt sie durch einen Zufall, dass ihre Eltern vor ihrer Geburt schon mal ein Kind hatten. Das Mädchen, das in jungen Jahren an Diphterie gestorben ist, und über das seither niemand mehr spricht. Mit dem Wissen um eine unsichtbare Schwester kann die junge Annie Ernaux nur schwer umgehen.

Ich wurde geboren, weil du gestorben warst, ich habe dich ersetzt.

Das andere Mädchen, Annie Ernaux

Brief an eine Verstorbene

In der Rückschau macht sich die Autorin auf die Suche, spricht mit Verwandten und Freund:innen, fragt nach weiteren Bildern und Hinweisen, die das jahrzehntelange Schweigen aufbrechen und mit Leben, einem Charakter und einem Gesicht füllen können. Wie in einem Brief wendet sie sich an die tote Schwester und spricht sie direkt an. So schildert sie, wie es sich anfühlte immer im stillen Vergleich zu einer Person zu leben, die durch ihren frühen Tod von allen zur Heiligen stilisiert worden war.

Erkundung der Vergangenheit

Auf die für Annie Ernaux typische nachdenklich-melodische Art wandert sie entlang der Windungen ihres Gedächtnisses. Mit “Das andere Mädchen” nimmt sie ihre Leser:innen mit in ein kraftvolles Stück Literatur, das gleichzeitig Traumwelt und Realität abbildet.

Annie Ernaux, Das andere Mädchen. Gebundene Ausgabe von der Bibliothek Suhrkamp, ins Deutsche übersetzt von Sonja Finck, 18€.