Theaterkritik
Vögel
Romeo und Julia inmitten der politischen und kulturellen Spannungen des Nahostkonflikts. Mit Wajdi Mouawads weltweit erfolgreichem Theaterstück Vögel war das Kölner Schauspielhaus am vergangenen Freitag zu Gast im Theaterstream des Münchner Residenztheaters.
Ein Vorteil der Pandemie ist ja der Digitalisierungsimpuls, der sich auch notgedrungen bei den für den Publikumsbetrieb geschlossenen Theaterhäusern bemerkbar macht. Das Münchener Residenztheater zeigt unter dem Motto ‚Resi streamt‘ in den letzten Monaten nicht nur eigene Produktionen, sondern auch Gastspiele, wie etwa vom Schauspielhaus Köln. Die am Freitag gezeigte Inszenierung des von dem libanesisch-kanadischen Theaterschriftsteller Wajdi Mouawad geschriebenen Stücks Vögel gibt definitiv Anstoß, auch mal über den regionalen Tellerrand hinaus das digitale Angebot anderer Schauspielhäuser zu entdecken.
Romeo und Julia im Nahen Osten
Eitan Zimmermann, ein deutsch-jüdischer Doktorand der Biogenetik verliebt sich im Lesesaal einer Universitätsbibliothek in die arabischstämmige Wahida. Für das junge Liebespaar stellen ihre unterschiedlichen Herkünfte kein Hindernis dar. Für Eitan sind aus der Perspektive der Genetik alle Menschen gleich. Doch Eitans Familie zeigt sich nicht gerade amüsiert. Sein Vater David hält an dem Erbleid der jüdischen Diaspora fest und stellt die Herkunft über die Liebe. Der Sohn hält erfolglos dagegen: „Leid vererbt sich nicht von Generation zu Generation“. Wissenschaftler, der er ist, unterzieht Eitan seine Familie einem DNA-Test und kommt auf die Spur eines dunklen Familiengeheimnisses. Um von Eitans Großmutter mehr Klarheit zu erhalten, reisen Eitan und Wahida nach Israel. Unversehens finden sie sich inmitten des Nahostkonflikts, der untrennbar mit der geheimen Familiengeschichte der Zimmermanns verknüpft ist. Was anfangs als etwas pathetische Romeo und Julia-Geschichte anmutet, gewinnt durch die Situierung der Liebe inmitten des Nahostkonflikts schnell an Tiefe und Komplexität.
Vielheit der Perspektiven
Vögel behandelt auf multiperspektivische Weise die Frage, wie sich unsere Identität zusammensetzt und welche Rolle sie spielen darf. Dabei kommt das Stück nicht umhin, einerseits das natürliche Bedürfnis nach Identität und andererseits das sozialpolitische Gefahrenpotenzial von religiösen und kulturellen Identitäten zu thematisieren. In ausdrucksstarken Dialogen entwickelt sich aus den Perspektiven der einzelnen Figuren eine Debatte über Identität und Herkunft. Ein klarer Gewinn stellt dabei die vielsprachige Fassung von Vögel dar. Bachmann zögerte nach eigener Aussage keine Sekunde, sich für die mehrsprachige Fassung zu entscheiden. Der Aufwand der Kölner Darsteller:innen mithilfe von Sprachunterricht die Textzeilen in Deutsch, Hebräisch, Jiddisch, Arabisch und Englisch einzuüben bringt einen klaren Mehrwert: Sprache ist Identität. Das Hörbare In- und Gegeneinander der Sprachen macht den kulturellen Identitätsclash auf der Bühne erfahrbar. Die Vielsprachigkeit aber auch das Nichtverstehen zeigen die Vielfalt und zugleich die Grenzen von Identität auf.
Nahe Blicke und kurze Weile
Bei der Frage, wie sich ein solches Stück nun für die digitale Bühne umsetzen lässt, hat Bachmann mit der Zusammenarbeit mit Kameramann Andreas Deinert ins Schwarze getroffen. Sieben Kameras zeigen die Schauspieler:innen aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlicher Nähe. In Splitscreens können die Zuschauer:innen selbst wählen, welche Einstellung sie nun fokussieren wollen. Anders als beim konventionellen Filmformat erzeugt diese Methode mehr ästhetische Nähe zum realen Theaterereignis, bei dem der Blick selbstbestimmt über die Bühne wandern kann.
Die filmischen Nahaufnahmen ermöglichen außerdem Einblicke in die enorme Schauspielkunst der Kölner Schauspieler:innen, die das Theater normalerweise weniger bietet. Das scheint angesichts des heiklen und persönlichen Stoffs von Vögel besonders gut aufzugehen. Bruno Cathomas brilliert hier in der Rolle als identitätszerrissener David. Martin Reinke zeigt als Großvater feines Gespür für das Erzählen der jüdisch-deutschen und jüdisch-israelischen Geschichte.
Mit nahezu 2,5 Stunden Streamdauer wird einem erstmal etwas bang auf dem heimischen Sofa. Doch bietet Mouawads Text und Bachmanns Inszenierung eine Tiefenstruktur, die gut durch das Stück trägt. Schritt für Schritt wird die Familientragödie entfaltet und dabei die Komplexität der Identitätsfragen gesteigert. Dabei geraten auch die Identitäten des jungen Liebespaars Eitan und Wahida, das sich seiner gegenseitigen Toleranz so sicher war, ins Wanken.
Die nächsten Streams von Vögel finden am 16. und 26. Mai auf der Webseite des Schauspielhaus Köln statt.