Underdox Festival 2021
Dokument und Experiment in Festivalform
Filme, die Grenzen sprengen, experimentieren, die sich außerhalb des Mainstreams bewegen. Diesen Filmen gibt das Underdox Festival auch dieses Jahr wieder eine Plattform. Wir haben uns durch das bunte Programm geschaut und präsentieren euch eine Auswahl der Filme die es zu sehen gab.
2551.01 – Norbert Pfaffenbichler
2551.01 verweist vielfach auf Charlie Chaplins Stummfilmklassiker The Kid. Wie in The Kid geht es auch hier um einen Mann der ein Waisenkind vor dem Elend rettet. Im Kern handelt es sich wieder um die liebenswerte Geschichte von zwei Außenseitern die es zusammen schaffen in einer Welt zu überleben in der alles gegen sie spielt. Nur ist die Welt von 2551.01 von grotesk maskierten Freaks bevölkert, welche ein repressiver Polizeistaat dazu zwingt in untergrundartigen Tunnelsystemen zu hausen. Die „Glücklichen“ unter ihnen schaffen es irgendwie in dieser höllischen Unterwelt in der Stärke Macht bedeutet zu überleben. Die Unglücklicheren werden entführt, als Terroristen eingestuft und Folterexperimenten unterworfen.
2551.01 liefert ein ungewöhnlichen Genre Mix-Up irgendwo zwischen Stummfilm-Slapstick und Low-Budget Exploitation. Obwohl die Slapstick Elemente manchmal etwas fehl am Platz wirken schafft der Film es eine fast schon erdrückende Atmosphäre zu erschaffen. Das liegt sicherlich zu einem großen Teil am großartigen Kostümdesign, welches eine unglaubliche Vielzahl an höchst kreativen und bizarren Masken aus Pfaffenbichlers Privatsammlung zu bieten hat. Aber auch der packende Soundtrack der irgendwo zwischen klassischer Musik, Ambient und Industrial verkehrt, verstärkt diese Stimmung. Das Ganze wird dann noch von einem wahrhaft abstoßenden Sounddesign gekrönt, welches die schwer verdaulichen Body Horror Sequenzen des Films perfektioniert. Pfaffenbichler erschafft mit 2551.01 also eine einzigartige Welt die wirklich sehenswert ist. TF
WAS SEHEN WIR, WENN WIR ZUM HIMMEL SCHAUEN? – Alexandre Koberidze
„Wenn der Ton ertönt, schließen Sie die Augen“. Das ist die Anweisung auf der Leinwand. Als die Zuschauer:innen die Augen wieder öffnen, hat sich das Aussehen der Protagonistin Lisa verändert. Am Tag zuvor hatte sie Giorgi auf der Straße kennengelernt; die beiden hatten sich auf den ersten Blick verliebt. Am nächsten Tag wollen sie sich wiedertreffen, aber sie werden von einem bösen Blick verflucht. Als sie aufwachen, hat sich ihr Aussehen verändert und obwohl beide zum vereinbarten Treffpunkt kommen, erkennen sie sich nicht wieder. Danach begegnen sie sich zwar immer wieder, wissen aber nie, wer die andere Person ist.
Auch wenn der Film die Hauptfiguren nie aus dem Auge verliert, so rücken sie doch oft in den Hintergrund. Stattdessen sehen die Zuschauer:innen fast schon dokumentarische Aufnahmen der Stadt, begleitet von einem leichtfüßigen, träumerischen Soundtrack. Der Film ist oft sehr charmant und man merkt, dass Regisseur Alexandre Koberidze hier viel Spaß hatte. Er selbst gibt mit trockenem Humor den Erzähler und berichtet beispielsweise, wo die Straßenhunde gerne mit ihren Freund:innen Fußball schauen. Nur durch ihn erfahren wir überhaupt von dem bösen Blick, Spezialeffekte oder ähnliches werden nicht eingesetzt. Das ist eine sehr gute Entscheidung, da der Film sonst leicht ins Lächerliche rutschen könnte. Allerdings ziehen sich die langen, dokumentarischen Szenen, in denen eigentlich nichts passiert doch ein bisschen in die Länge und man merkt dem Film die zweineinhalb Stunden teilweise schon sehr an. Dennoch ist „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ ein zauberhaftes Märchen über das Leben, die Liebe und die Stadt, in der er spielt. LM
USHIKU – Thomas Ash
Beim G7-Gipfel 2017 hat sich Japan dazu verpflichtet Geflüchtete aufzunehmen und human zu behandeln. Die Realität sieht aber anders aus. Ushiku beschäftigt sich mit den Zuständen in einem Gefängnis für Immigranten. Mit versteckter Kamera hat der Regisseur Thomas Ash mit den Menschen dort geredet. Sie erzählen von Wachen, denen die Gesundheit der Inhaftierten egal ist und die brutalste Gewalt anwenden. Das wird auch durch ein gezeigtes Video verdeutlicht in dem ein Insasse minutenlange von den Wachen zu Boden gedrückt wird, während er vor Schmerzen schreit.
Der Film verzichtet hier glücklicherweise auf dramatische Musik, oder ähnliche Elemente, die die Emotionen der Zuschauer:innen beeinflussen sollen. Er lässt die Betroffenen fast vollkommen für sich sprechen und der Regisseur tritt selbst so gut wie nie vor die Kamera. Aber auch in den Momenten, in denen er zu sehen ist, wirkt das nicht störend, da er den Fokus weiterhin auf die Geflüchteten legt. Damit ist Ushiku sehr minimalistisch gehalten. Dennoch ist er, alleine wegen der Thematik, ein sehr eindrücklicher, schwer anzuschauender Film. Vor allem aber, ist er von großer Wichtigkeit, da er auf ein Problem aufmerksam macht, das auch in Japan selbst bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat und im Westen so gut wie unbekannt ist. LM
FEAST – Tim Leyendekker
Feast dekonstruiert einen spektakulären Kriminalfall. Im Jahr 2017 wurden in Groningen von einem Pärchen auf einer Sexparty andere schwule Männer unter Drogen gesetzt und mit HIV infiziert. Der Film setzt sich mit dem Fall in sieben sehr unterschiedlich gestalteten Teilen auseinander. Diese fließen frei zwischen klar fiktional gestalteten Szenen und dokumentarischem Interview.
Durch diesen Wechsel zwischen den Filmformen schafft es Leyendecker fast spielerisch einen Kommentar zu Realismus und Objektivität im Dokumentarfilm abzugeben, welche hierzulande ja durch die Diskussion um Lovemobil in aller Munde ist. Während man sich als Zuschauer:in stets fragt ob das gezeigte wirklich real ist, bricht Leyendecker immer wieder auf kreative Art und Weise die vierte Wand und beweist dadurch, dass gerade eine zusätzliche fiktionale Ebene oft viel aussagekräftiger sein kann als die bloße Dokumentation.
Das alles geschieht mit wunderschönen Bildern, wenn zum Beispiel ein Interview mit einem der Täter von Körper-Nahaufnahmen begleitet wird und man am Ende in einer starken Einstellung nur kurz die Hände des Interviewpartners zu sehen bekommt. Leyendecker schafft es die schwierige Thematik des Kriminalfalls feinfühlig und visuell höchst anregend zu behandeln. Anstatt in Voyeurismus oder Vorverurteilung abzurutschen schafft es Feast eindrucksvoll zu zeigen wie facettenreich das Leben selbst in seinen Schattenseiten wirklich sein kann. TF
HER SOCIALIST SMILE – John Gianvitoc
Helen Keller ist nur zwei Jahre alt, als sie 1882 sowohl ihr Gehör als auch ihr Augenlicht verliert. Trotzdem lernt sie sprechen und kann später vier Sprachen in Brailleschrift lesen und schreiben. Sie kämpft für Frauenrechte, gegen Rassismus und setzt sich für den Sozialismus ein. Her Socialist Smile ist ein ungewöhnliches Portrait der Amerikanerin. Der Film besteht großteils aus einem Text über Keller, der mit gleichmäßiger Stimme vorgelesen wird. Dazu werden vor allem Naturaufnahmen gezeigt: Verschneite Bäume, ein langsam plätschernder Fluss, eine Raupe… Ganz selten wird ein Foto oder ein Video von den beschriebenen Ereignissen eingeblendet. Mit diesen Bildern wechseln sich lange Blöcke von Kellers Texten ab, die ohne Musik oder Kommentar eingeblendet werden.
Der Regisseur zwingt die Zuschauer:innen also ihre volle Aufmerksamkeit auf den Film zu lenken und sich bewusst selber mit den Inhalten zu beschäftigen. Helen Keller als Person ist äußerst faszinierend und ihre Texte zeugen von ihrer Intelligenz und ihrem Humor. Es ist sehr schön zu sehen, dass ihr hier viel Raum für ihre Stimme gegeben wird. Doch auf Dauer ist der Film auch etwas ermüdend und die Naturaufnahmen wirken leicht deplatziert. Da er vor allem aus einem vorgelesenen Text und Textblöcken, die die Zuschauer:innen selber lesen besteht, stellt sich doch die Frage, warum sich hier überhaupt für das Medium Film entschieden wurde. LM
PEBBLES – P.S. Vinothraj
Ein Mann läuft zielstrebig durch die steinige Wüste von Tamil Nadu im Süden von Indien. Die raue Landschaft ist karg, die Sonne brennt unerbittlich auf den staubigen Sand und hellgrauen Kiesel. Zu hören sind nur die rhythmisch knirschenden Schritte auf dem Kies und das angestrengte Atmen. Sie vermischen sich zu einer hypnotischen Melodie. Pebbles ist ein stiller Film und gleichzeitig wahnsinnig laut. Still, weil es kaum Musik gibt, weil die Figuren insgesamt nur ein paar Sätze sprechen. Laut ist aber das Abbild der toxischen patriarchalen Gesellschaft, dass Pebbles zeichnet.
Der Mann ist auf der Suche nach seiner Frau, die vor seiner Gewalt aus dem gemeinsamen Haus geflohen ist. Mit dabei hat er seinen Sohn, der ihm als Bote und Druckmittel dienen soll. Der kleine Junge läuft mal im Sicherheitsabstand hinter seinem Vater her, mal unternimmt er verzweifelte Versuche ihn aufzuhalten. Seine fragile Unschuld steht in starkem Kontrast zu der bedrohlichen Ausstrahlung seines Vaters. Der Fokus auf die Reise der beiden wird durch kurze Einblicke in das Leben der Menschen darumherum unterbrochen. Immer wieder lässt Regisseur P.S. Vinothraj den Blick schweifen auf die Menschen, denen Vater und Sohn begegnen: Sorgfältig observiert er so eine Frau mit ihrem kleinen Kind, ruhig während die Männer um sie herum streiten. Eine kleine Familie, die zum Essen Ratten fängt und sie lebendig röstet.
P.S. Vinothraj hat Pebbles während der unglaublich heißen Mittagsstunden von 12-16 Uhr gefilmt, da wo man eigentlich im Schatten verharren sollte. Das besondere harte helle Licht gibt den Bildern eine unwirkliche Athmosphäre. Die Bilder sind sehr klar und symmetrisch arrangiert, wodurch manchmal eine gewisse Distanz zu den Personen entsteht. Trotzdem zeigt Pebbles in einem kurzen, simpel aufgebauten Film die Komplexität einer Gesellschaft, die Männern dominiert, aber von Frauen getragen wird. JM
Falls ihr noch Lust auf mehr Videokunst habt. Zwischen 12. Oktober und 24. Oktober habt ihr noch die Chance die Videodox Biennale in der Galerie der Künstler zu besuchen. Außerdem haben wir uns bereits letztes Jahr mit den Underdox Veranstalter:innen Dunja Bilas und Bernd Brehmer unterhalten