DANCE 2021
Two for the Show – All for One and One for the Money
Reiz! Über! Flutung! Das schreit die virtuelle Performance Two for the Show – All for One and One for the Money förmlich. US-Choreograph Richard Siegal und seinem Team ist mit der effektgeladenen Show etwas geglückt, was derzeit alle wollen: eine Darbietung, die im Internet noch besser funktioniert als in Präsenz.
Weiße Pixel-Schrift auf schwarzem Grund, ein rotleuchtendes „Starten“: Willkommen in der OASIS von Ready Player One. Könnte man meinen. Aber nein. Diese Oberfläche, die an die von Spielautomaten der 1980er erinnert, gehört zu dem Webplayer, den der Künstler Jean-Philippe Lambert für Richard Siegals Two for the Show eigens programmiert hat.
Aus dem Netz für das Netz
Dieser Webplayer ist das Portal zu der interaktiven Inszenierung. Mit dem Klick auf Start öffnen sich drei parallel laufende Streams und zwei freischaltbare Zusatz-Streams, zwischen denen hin- und hergewechselt werden kann. Der ausgewählte Stream erscheint groß in der Mitte – was in den anderen geschieht, ist in kleineren Fenstern darunter zu sehen.
Schon im ersten Akt nutzt Siegal die Möglichkeiten der Web-Vorstellung voll aus: Die fünf verschiedenen Kanäle bieten fünf verschiedene Blickwinkel auf die Bühne des Schauspiel Köln. Balsam für alle, denen die vorgegebenen Kamera-Einstellungen bei herkömmlichen Streams ein Dorn im Auge sind. Und diese Choreographie aus verschiedenen Perspektiven erleben zu dürfen, ist wirklich eine Freude.
Wer Richard Siegal und sein Ballet of Difference kennt, weiß, dass er Tanzstile und Kunstsparten leidenschaftlich verknüpft und sich neue Medien als Inspiration nimmt (so auch schon bei DANCE 2019 mit ROUGHHOUSE). Passend zu der besonderen Oberfläche des Webplayers erinnert die Musik von Two for the Show an ein Durcheinander von Gaming-Scores und LoFi-Dance-Beats. Ungleich dazu legt Siegal den Fokus seiner Choreographie mehr auf klassisches Ballett.
Getanzt wird auf Spitze – die Figuren erinnern mit ihren mal weichen, mal abgehackten Bewegungen aber an die von humanoiden Robotern, deren Körper hin- und hergerissen scheinen zwischen dem Dasein als Mensch und dem als Maschine. Auf der leeren, monochromen Bühne gliedern sich aus dem großen Ensemble immer wieder Duos und Solist:innen aus, die nach ihrer eigenen Melodie zu tanzen scheinen. Umrahmt ist alles von deckenhohen, strahlenförmig angeordneten Neon-Röhren, die auf den Rhythmus der Musik die Farben wechseln. Alles auf der Bühne scheint in Bewegung, selbst das Licht tanzt mit.
Die Kür dieser Eröffnung bilden die unverwechselbaren Kostüme von Flora Miranda. Sie erinnern mal an klassische Ballett-Tutus mit Stehrock, mal an Oskar Schlemmers triadisches Ballett, mal an VR-Anzüge und Exoskelette. Beschaffen sind sie aus Schläuchen, Gurten, Tapes und Planen – massive Materialien, die jedoch origamihaft gefaltet aussehen und jeder Bewegung der Tänzer:innen folgen.
Nach einer halben Stunde Ende Akt I, Applaus brandet auf im interaktiven Chat. Emojis und in Großbuchstaben geschriebene Bravi-Rufe. Es folgt eine zehnminütige Pause auf allen fünf Streams. Was die meisten Zuschauenden zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen: Ab jetzt tritt der Tanz in den Hintergrund. Ab jetzt betritt diese digitale Performance die Meta-Meta-Ebene. Ab jetzt geht’s ab.
Sturm auf die Sinne
Als es weitergeht, passiert auf einmal sehr viel gleichzeitig. Die fünf Streams teilen sich auf: Während auf Stream 1 vorerst weiter getanzt wird, übertragen auf Stream 2 und 3 zwei Gamer à la Twitch ihr laufendes Videospiel – sie zocken Minecraft, Fall Guys oder Limbo. Auf den Zusatz-Streams wandert die Handkamera von Tänzer:in zu Tänzer:in, während Pop-Up-Fenster aufploppen, Stühle durch die Gegend geworfen werden und jemand Sushi isst.
Und als wäre all das nicht genug, verbreitet ein Bot namens AngelaMerkel in der Chat-Leiste auch noch Hitler-Parolen. Jedes einzelne Fenster schreit: „Schau! Mich! An!“. Das Zuschauer:innen-Hirn rattert, kann sich kaum auf eines der Geschehnisse konzentrieren, die Hand auf der Maus klickt und klickt und klickt. Stress!
Hilfe, FOMO!
Was Two for the Show hier abliefert, ist strategische Reizüberflutung. Ertappt fühlen sich hier selbst Digital Natives, für die sonst der Second oder Third Screen im Alltag kein Problem ist. Hier schaffen es fünf Streams auf einem Bildschirm, dass FOMO ausbricht – fear of missing out. Ständig streift, den/die Zuschauer:in die Angst, etwas zu verpassen, während man versucht, sich wenigstens für ein paar Minuten auf einen der Streams einzulassen.
Immerhin: Ein wenig Adrenalin-Kanalisieren ist möglich. Die Zuschauer:innen können das Geschehen in den Live-Streams beeinflussen – sie antworten im Chat auf Fragen der Akteur:innen oder tanzen zuhause mit ihrem Smartphone auf JustDanceNow! mit Gamer LXX aus Stream 3 um die Wette. Denn auch, wenn diese Plattform stresst und zeitweise nervt und überfordert: Dieses Gesamtkonzept ist schon verdammt genial. Oder wie eine Zuschauerin es zusammenfasst: „some sort of the more interesting brainfuck you can stream these days“.
Two for the Show – All for One and One for the Money schafft damit etwas, was es während der Corona-Zeit bisher viel zu wenig gab, aber zwangsweise viel mehr braucht: ein Konzept, das das neue Medium Webstream nicht nur akzeptiert oder klug aufgreift, sondern es nahezu inhaliert, umarmt, zelebriert. Siegals Show verwebt Tanz mit Netz-Kultur und Social-Media-Trends und übt trotzdem scharfe Kritik an Selbstdarstellung im Web und den diffusen Inhalten so mancher Kommentarspalten.
Freilich wäre es trotzdem schön gewesen, den ersten Akt – wie ursprünglich geplant – live auf einer Bühne zu erleben. Und im Chat mehren sich die Kommentare, die monieren, dass der Tanz-Anteil in diesem Format zu kurz kommt. Doch muss man diesen Stimmen die Frage entgegenhalten: Ist das Huschen der Augen von Stream zu Stream, die kreisenden Mausbewegungen, das stakkatohafte Tippen auf der Tastatur nicht auch alles Bewegung? Nicht auch alles irgendwie Tanz?
Two for the Show – All for One and One for the Money (Extended Choreographer’s Cut) von Richard Siegal/Ballet of Difference war im Rahmen des 17. DANCE Festivals München am 06. und 07.05.2021 virtuell zu sehen. Das Stück in drei Akten feierte im Choreographer’s Cut am 24.04.21 seine Uraufführung am Schauspiel Köln. Weitere Spieltermine sind über die Seite des Schauspiel Köln erfahrbar.