M94.5 Filmkritik
The Farewell
2013 erhält eine Chinesin die Diagnose Lungenkrebs im Endstadium, die Ärzte geben ihr noch drei Monate zu Leben. Nur erfährt sie selbst nichts von ihrer Krankheit. Denn ihre Familie beschließt, ihr die Diagnose zu verschweigen. Diese Chinesin ist die Großmutter der in den USA aufgewachsenen, chinesisch-stämmigen Regisseurin Lulu Wang. Sechs Jahre später, 2019, hat Wang aus ihrer Familiengeschichte eine Tragikomödie gemacht: The Farewell. Das Ergebnis ist zum Glück weder Herzschmerz-Kino noch Culture-Clash-Komödie, sondern ein fordernder Ausnahmefilm.
Weiße Schrift auf schwarzem Grund: „Based on an actual lie“. So beginnt The Farewell und wirft den Zuschauer direkt in eine Flut von Fragen. Ja, wie? Weil der Film von Regisseurin Lulu Wang teils autobiographisch, teils fiktiv ist? Oder bezieht sich der Introtext auf den Inhalt des Films – schließlich geht es in The Farewell um nichts als einen großen, großen Bluff? Zuschauer-Verunsicherung ab dem ersten Moment. Was kann man einem solchen Film überhaupt glauben? Nichts und alles. Auftakt zu großartig ambivalenten 101 Minuten Kino!
„Egal, wie traurig du bist, du darfst nichts sagen.“ Mit diesem Satz beginnt für die Hauptfigur Billie (mit die größte Überraschung des Films: überragend gespielt von Rapperin und Moderatorin Awkwafina) eine schwierige Reise. Um ihre totkranke Großmutter Nai Nai noch ein letztes Mal zu sehen, ist sie mit ihren Eltern nach China gereist, zum ersten Mal seit 25 Jahren. Dort erwartet sie eine Welt voller aufrecht zu erhaltender Illusionen. Die Kamera bleibt dabei ganz nah an der Protagonistin und ihren Sehgewohnheiten.
Zwischen Lüge und Wahrheit, Hier und Dort
Billie – durch und durch amerikanischer Millenial, die besser Englisch als Chinesisch spricht und sich mit dem Gedanken, ihrer Nai Nai ihre Krankheit bis zum Tod zu verschweigen, überhaupt nicht abfinden kann – erscheinen viele der chinesischen Bräuche, die ihr dort begegnen, bizarr und entsprechend erscheinen sie auch dem Zuschauer: Die übertrieben süßliche Kulisse für ein Hochzeitsfotoshooting, in der Brautpaare in Massen abgefertigt werden. Aufwändig drapierte Berge von Essen (gefühlt wird den ganzen Film hindurch ständig und unglaublich viel gegessen), die sowieso niemand bewältigen kann. Gespräche, die sich ständig um die vermeintlich gute Gesundheit von Nai Nai drehen. Neben dem Lügenkonstrukt der Handlung wirkt das ganze Setting wie eine Kulisse, die Emotionen zeugen von Zerrissenheit.
Regisseurin Lulu Wang legt mit ihrer Kameraführung und ihrem Drehbuch den Finger genau dorthin, wo es wehtut. Erdrückend sind die Szenen in absoluter Stille. Schwer ist es für den westlichen Zuschauer nachzuvollziehen, was für die chinesische Gesellschaft selbstverständlich ist.
Bilingualität geschickt eingesetzt
Hervorragend getragen wird diese Zerrissenheit durch den Einsatz von Zweisprachigkeit. Ganz selbstverständlich springen die Darsteller*innen zwischen Englisch und Chinesisch hin und her, indem die Sprache je nach Gesprächspartner wechselt. Dadurch wirkt der Film sehr authentisch. Mehr noch: Diese Zweisprachigkeit eröffnet eine raffinierte zweite Kommunikationsebene. Besonders gelungen ist eine Krankenhaus-Szene, in der Billie in Anwesenheit von Nai Nai auf Englisch mit dem Arzt über die schlechter werdende Verfassung ihrer Großmutter spricht – Nai Nai spricht nur chinesisch. Das Gespräch ist bedrückend, jedoch darf sich Billie in ihrer Mimik nichts anmerken lassen. Mit gleichsam zugeschnürter Kehle und unterdrücktem Heulen im Hals sitzt der Zuschauer im dunklen Kinosaal. Es bleibt zu hoffen, dass dieser geniale Kniff des Drehbuchs und die souveräne Sprachleistung der Darsteller*innen auch in der Synchronfassung erhalten werden kann. Andernfalls lautet die Empfehlung: The Farewell unbedingt in Originalversion ansehen!
Asiatisches Kino auf Erfolgskurs
2019 scheint das Jahr des asiatischen Kinos zu sein. Es rührt sich was, in Sachen Diversität in Hollywood. The Farewell ist neben dem koreanischen Kritikerliebling Parasite als bester fremdsprachiger Film für einen Golden Globe nominiert, Awkwafina als beste Hauptdarstellerin. Beide Filme bringen eine neue Art von Erzählstil und Dialogführung auf die Leinwand, die für westliche Sehgewohnheiten noch eher ungewohnt wirkt. Spannend ist hier besonders, dass Lulu Wang immer wieder den Vergleich zwischen amerikanischer und chinesischer Gesellschaft und Familie aufmacht. „Vielleicht findest du ja, dass der Mond anderswo voller ist,“ lässt sie einen ihrer Protagonisten sagen und den Zuschauer den ganzen Film hindurch die eigene Vorstellung von Familie und Wahrheit reflektieren.
Kein Wunder, dass bei diesem anspruchsvollen, die Möglichkeiten des Storytellings voll ausschöpfendem Programm auch der Rezensions-Kanon für The Farewell schon jetzt durch die Bank positiv ist. Am 13. Januar 2020 steht dann auch fest, ob es mit diesen vielversprechenden Vorzeichen für The Farewell vielleicht sogar für eine Oscar-Nominierung gereicht haben wird.
The Farewell läuft ab dem 19. Dezember 2019 in den deutschen Kinos.