Systemchange in Krisenzeiten
Virus im System
Nichts ist beständiger als der Wandel. Philosoph Heraklit hat im antiken Griechenland geahnt, wie allgegenwärtig Wandel für das System sein kann. Stehen wir durch die Corona-Pandemie etwa vor genau einem solchen Systemwandel?
Unter einem politischen Systemwandel versteht man in erster Linie eine Situation, in der sich eingeübte Muster in der Politik verändern. Zusätzlich ändern sich auch die Erwartungshaltungen der Gesellschaft gegenüber diesen, erklärt Dr. Andreas Kalina, verantwortlich für die Bereiche politischer und gesellschaftlicher Wandel und europäische Integration an der Akademie für politische Bildung. Wichtig sei, dass man einen Systemwandel klar von einer Revolution trennen muss. Eine Revolution bezeichnet eine abrupte Änderung der politischen Denkweisen und des Systems insgesamt, ein politischer Systemwandel ist dagegen ein schleichender Prozess. Dieser benötigt bestimmte Impulse um ins Laufen zu kommen, wie zum Beispiel die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem aktuellen System.
Phasen eines Systemwandels
„Da ein solcher politischer Wandel nicht von heute auf morgen passieren kann, durchläuft der Prozess drei Phasen“, erklärt Dr. Andreas Kalina weiter. In der ersten Phase kommt es zu einem Ausnahme- oder Notzustand in der Bevölkerung, beispielsweise eine Pandemie. In Deutschland zum Beispiel muss nach einem Notzustand laut Verfassung wieder in den Normalzustand zurückgekehrt werden. Das führt, laut Dr. Kalina, in die zweite Phase. Hier wird von der Politik festgestellt, dass ein Normalzustand nicht 1:1 wieder hergestellt werden kann und infolge werden Veränderungen, insbesondere Gesetzesänderungen, eingeführt. In der dritten und letzten Phase müssen sich diese Gesetzesänderungen im politischen Alltag bewähren und vor allem in der Gesellschaft funktionieren. Dieser Prozess kann sich über Jahre erstrecken.
Corona und Systemwandel
Auch Prof. Dr. Edgar Grande, Gründungsdirektor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung am Wissenschaftszentrum Berlin, bezeichnet einen politischen Systemwandel als einen schleichenden Prozess. Für ihn muss eine Krise wie die Corona-Pandemie aber nicht zwangsläufig mit einem Systemwandel einhergehen. Entscheidend sei vielmehr die Frage, welches politische System besser mit der Krise zurechtkommt. Dass semi-autokratische Systeme wie Singapur momentan als Paradebeispiel im Umgang mit der Corona-Krise gelten, liege allerdings weniger an deren politischem System, als vielmehr an der frühzeitigen Einleitung entsprechender Maßnahmen.
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Krisen als Stunde der Exekutive
In Krisenzeiten sind es vor allem die Regierungen, die im Mittelpunkt stehen. Die Parlamente spielen im Vergleich dazu eine eher untergeordnete Rolle, so Prof. Dr. Grande. Krisen sind deshalb ihm zufolge immer Stunden der Exekutive.
Das birgt allerdings auch Gefahren. So gibt es beispielsweise Länder, in denen Regierungen versuchen, die Krise bewusst für sich zu nutzen, um dauerhaft das Verhältnis von Regierung zu Parlamenten und Medien zu verändern. „Ein Beispiel ist Ungarn, dessen Notstandsgesetz mit Mehrheit im Parlament verabschiedet wurde. Es gibt den Ministerpräsidenten dauerhaft die Möglichkeit, ohne Zustimmung des Parlamentes zu regieren, also im Grunde die Position eines autokratischen Herrschers einzunehmen.“
In diesem Zusammenhang sei zu Recht kritisiert worden, dass das einen weiteren, vielleicht sogar den letzten entscheidenden Schritt des Systemwandels weg von der Demokratie in Ungarn bedeuten könnte, so Prof. Dr. Grande.
Dem Professor nach, müssen solche Einschränkungen aber nicht zwangsläufig mit einer Krise einhergehen.