Hochsensibilität
Superpower unter den angeblichen Schwächen
„Du bist aber überempfindlich“ oder „Stell dich nicht so an“ sind Sprüche, die sich hochsensible Menschen immer wieder anhören müssen. Als „Sensibelchen“ abgestempelt, fühlen sie sich oft ausgegrenzt und missverstanden, irgendwie fehl am Platz unter den Menschen, die von den Reizen ihrer Umwelt nicht so stark beeinflusst werden wie sie selbst.
Hochsensible Menschen besitzen nämlich eine stark ausgeprägte Perzeption. Sie nehmen sensorische Reize, wie zum Beispiel Lautstärke, Geschmack und Gerüche, aber auch Gefühle und Stimmungen viel stärker wahr. Doch hochsensibel ist nicht gleich hochsensibel. Denn wie Dipl.-Psychologin Sabine Hein erklärt, gibt es unterschiedliche Wahrnehmungstypen: Die einen reagieren beispielsweise besonders stark auf auditive Überreizungen. Die anderen besitzen einen überdurchschnittlich ausgeprägten Geschmackssinn besitzen. “Es ist eine besondere Ausprägung des Nervensystems”, erklärt Sabine Hein weiter, bei denen bestimmte Sinneskanäle ungefiltert für neue Reize permanent geöffnet sind.
“Rund jeder zehnte Mensch auf der Welt ist hochsensibel”
Das sagt Anne Heintze, die als Expertin für Hochsensibilität bereits seit 25 Jahren mit hochsensiblen Menschen zusammenarbeitet und ihre Erfahrungen und Recherchen in zahlreichen Ratgeberbüchern festhält. Verständnis für diese hochsensiblen Menschen gibt es in unserer Gesellschaft jedoch oft nur wenig, obwohl sich der öffentliche Diskurs darüber immer mehr öffnet, wie Anne Heintze positiv anmerkt. Auch Wissenschaftler versuchen dem Thema auf den Grund zu gehen: Hier stellt sich die Frage nach einer Diagnose “Hochsensibilität”. Außerdem wird erforscht, woher das Phänomen kommt und wie es letztendlich nachgewiesen werden kann. Auch wenn sich hier die Standpunkte unterscheiden, sind sich Psychologin Sabine Hein sowie Anne Heintze in folgendem Punkt einig:
“Es ist keine Diagnose, keine Krankheit, es ist eine Besonderheit, die Menschen mitbringen, es ist eine besondere Ausprägung des Nervensystems.”
Dipl.-Psychologin Sabine Hein
Ob Diagnose oder nicht, aus eigener Erfahrung könnten wir doch alle irgendjemanden kennen, der in bestimmen Situationen oft sensibler reagiert als wir selbst. Oder wir erkennen uns selbst als besonders empfindsame Person wieder. Egal wie individuell Sensibilität bei uns Menschen ausprägt ist, als Eigenschaft wird sie doch eher negativ als positiv in unserer Gesellschaft bewertet. Aber wieso ist das so?
Ein „Sensibelchen“ hat hier nichts verloren
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die stetig an ihren Heraus- und Anforderungen wächst und uns alle dazu aufruft, belastbarer und noch stressresistenter zu sein. Ein „Sensibelchen“ hat hier nichts verloren, denn wie soll es dem ständig ansteigenden Druck, geschweige denn den reizüberfluteten Anforderungen in der Arbeitswelt so gerecht werden? Sensibel, gar hochsensibel, zu sein wird oft als eine Schwäche betrachtet, die überkommen oder unterdrückt werden muss.
“Wichtig ist zu erkennen, wo ist das für mich was ganz Tolles”
Anne Heintze, die als Gründerin der Open Mind Academy hochsensible Menschen begleitet und berät, sieht das als sehr bedenklich. Wichtig sei es für hochsensible Menschen zu erkennen, dass sie hochsensibel sind und zu lernen ihre Sensibilität nicht negativ, sondern positiv zu betrachten. Heintze unterstützt in ihren Coachings hochsensible Menschen dabei, ihr volles Potential auszuschöpfen und ihre besonderen Persönlichkeitsmerkmale positiv für sich zu nutzen anstatt dagegen zu arbeiten. Denn das kann langfristig dazu führen, dass sich diese Menschen emotional stark überfordern und schlimmstenfalls in einem Burnout enden. So fasst Anne Heintze ihre Herangehensweise bei hochsensiblen Menschen wie folgt zusammen:
„Wichtig ist zu erkennen, wo ist das für mich was ganz Tolles. Zum Beispiel sehr feinfühlig zu schmecken, zu riechen, wahrzunehmen, einen Sinn für Ästhetik in der Umgebung um mich herum zu haben. Eine ganz starke, gut ausgeprägte Intuition zu haben. Das sind ganz besondere Fähigkeiten von hochsensiblen Menschen und wenn wir lernen auf diese feine Wahrnehmung zu hören, wird unser Leben sehr viel leichter.“
Anne Heintze
Heißt also, wenn sich hochsensible Menschen erst einmal ihrer Hochsensibilität bewusst werden und lernen, ihre intensiven Wahrnehmungen positiv umzuwandeln, können sie ihre zuvor angenommene Schwäche in eine geheime Superpower umwandeln. Denn anstatt gegen sich selbst zu arbeiten, können diese Menschen anfangen ihre besonders empathischen und feinfühligen Fähigkeiten für ihr Leben zu nutzen. In vielen Berufen können diese Eigenschaften sogar von großem Vorteil sein, zum Beispiel in der Pflege oder der sozialen Arbeit, wie Psychologin Sabine Hein weiter anführt.
„Hochsensibilität ist ein Persönlichkeitsmerkmal, so wie ein Mensch blaue Augen und Locken hat. Ein Anderer hat braune Augen und glatte Haare, es ist einfach eine Besonderheit nach der man sein Leben einrichtet und nicht mehr oder weniger.”
Anne Heintze
Egal, ob hochsensibel oder nicht: Es ist eine Chance, sich nie für eine besondere Empfindsamkeit zu schämen oder sie gar zu unterdrücken, sondern herauszufinden wie man sein Leben damit positiv gestalten kann.