Festival Blog Roskilde 2024
Roskilde 2024
Insights, Impressionen und Hintergründe live vom Roskilde Festival 2024. Ein subjektives Festival–Erlebnis unseres Reporters aus Dänemark – mit täglichen Updates, Radiofeatures und Bildern direkt vom Gelände.
Day ONE.
Ankunft und Akklimatisation.
Der Weg von München nach Roskilde ist kein Katzensprung.
1.204 Kilometer trennen das gemütliche Pressezelt des Roskilde Festivals auf der dänischen Insel Seeland und die Radiostation von M94.5 in Ismaning. Um hierher zu gelangen bedarf es eines gut gefüllten Geldbeutels für den Flug nach Kopenhagen, Sitzfleisch für 13 Stunden mit dem Auto quer durch die Republik oder wahlweise einen ungesunden Hang zur Selbstgeißelung, wenn es doch die Deutsche Bahn sein soll.
Nichts desto trotz, auch eine Odysee in die dänische Südsee hat einmal ihr Ende. (Achtung! Als Mensch aus dem Süden darf das Wort Südsee nicht missverstanden werden. Es ist der Norden, ja es ist kalt, ja auch im Sommer. Winterjackenpflicht!). Doch dann endlich die Ankunft im hochgelobten Land.
Das Festivalgelände der kleinen Stadt Roskilde erstreckt sich direkt am Stadtrand über mehrere Wiesen und Felder, hat sogar einen eigenen See und natürlich sieben großartige Stages. Während auf der Hauptbühne (Orange) noch aufgebaut wird und alles ein wenig nach Endzeitchaos aussieht, geht auf der Nebenbühne (Eos) bereits schamlos die Post ab. Mit der Shamelezz Draqshow wird am Vorabend bereits Geschichte geschrieben. Die allererste Dragshow auf dem Roskilde setzt einen neuen Standard und fordert Selbstbefreiung. Das Publikum ist begeistert und es ist unmöglich, sich von der Energie der Massen nicht mitreißen zulassen. “Fuck Yeah” schreit der Körper, während die Endorphine durch die von der langen Reise ermüdeten Glieder schießen. Jetzt ist auch der letzten Faser klar, es ist Festival.
Aufgeputscht soll es nach der Show zurück zum Pressezeltplatz gehen, um erstmal Luft zuschnappen. Doch Roskilde hat andere Pläne.
Plötzlich fällt der Blick auf grünen Stroboschein und sphärische Klänge locken in einen fast versteckten Winkel, in dem sich nur eine kleine Traube Menschen um einen gläsernen Würfel schart. Die Lust nach Ruhe ist wie weggeblasen. Im Würfel tanzt ein Wesen, das menschlich wirkt aber von einem anderen Stern sein muss. Bewegungen und Klänge gehen unmittelbar ineinander über und mal sieht es so aus, als würde die Tänzerin den DJ leiten und mal genau andersherum. Ekstatisch entwickelt sich ein Spiel, dem sich die Zuschauer:innen nicht entziehen können. Spätestens jetzt gibt es kein zurück.
“Velkommen til min helt egen verden”
flüstert Roskilde 2024
Willkommen in der ganz eigenen Welt von Roskilde.
Day Two.
The Next Level.
How to start a festival: Roskilde Style.
- Räume die komplette Festivalfläche von jeglichen Personen.
- Sammle 130.000 Menschen am Rande des Zeltplatzes hinter einem Absperrband.
- Gib ein eindeutiges Signal.
- Lass eine wild gewordenen Horde von 130.000 Menschen um die Wette laufen.
- Umarme die / den / them Gewinner:in, der / die / them als erstes die Mainstage erreicht.
- Gib der / dem / them Gewinner:in das Ticket für das Roskildefestival im nächsten Jahr.
What a way to start a non profit festival.
Mit Posaunen und Trompeten.
Die Job-Beschreibung: “Suche Tänzer mit hervorragendem Körpergefühl und gut bis sehr guten Trompeten- beziehungsweise Posaunen-Kenntnissen.” So oder so ähnlich muss Jessie Ware wohl ihre Background-Tänzer gesucht haben und: Wow, es gibt wohl für alles eine Nische. Der Auftritt von The Pearl trifft genau den Nerv, den auch ihr neues Album “That Feels Good!” so sehr zum Vibrieren bringt. Ihre Energie, ihr Charisma und ihre Präsenz lassen den Körper und Geist fassbar wholesome in die Festivalerfahrung eintauchen.
Doja Cat tut was Doja Cat so tut.
Was soll man großartig zu einem Auftritt von Doja Cat sagen außer, dass er natürlich großartig, überwältigend, aufreibend, göttlich und absolut krass ist und auch bis in alle Ewigkeit genau so bleiben wird. Dieser Mensch wirkt auf der Bühne weniger wie eine tatsächliche Person und mehr wie eine Mensch gewordene Göttin. Ihre Performance mit Elementen aus dem Rapunzel Märchen (inclusive gottlos langem goldenem Zopf der von der Bühnendecke hängt) muss man nicht in Gänze durchdringen, um ihn genießen zu können. Doja Cat hinterlässt Roskilde flabbergasted.
Eine schamanische Heilung.
Wer nun Sinn suchend, bei aufkommendem Nass des Himmels, schließlich Schutz in der Arena gesucht hat, findet dort eine mystische Zeitreise in die Welt der nordischen Rituale und Klänge. Die Band Heilung schafft es förmlich, den Donner, der durch die raue dänische Nacht erklingt, zu bannen und ihn mithilfe traditioneller Trommeln in Musik zu verwandeln. Kehliger Gesang und eine Stimmung, die mit jedem Ton tiefer und tiefer unter die Haut dringt. Das Ganze ist nicht weniger als ein Spektakel für Auge und Ohr. Es gibt schlicht keinen besseren Ort und keinen besseren Sound, um mit den nordischen Göttern zu tanzen.
Day Three.
My very first last dinner party.
Let them eat music. Please.
Auf dem Roskilde kommt zusammen, was zusammen gehört. Musikliebhaber:innen, Musiker:innen, Kreative, Künstler:innen, Kunstliebhaber:innen und Aktivismus im Allgemeinen. Das ganze Festival ist Non Profit und ALLE Einnahmen dienen einem guten Zweck. Ganz nebenbei schaffen es die Veranstalter:innen vom Roskilde-Festival auch noch das umzusetzen, was den deutschen Festivals aus häufig unerfindlichen Gründen nicht gelingen mag: nämlich 50 / 50 weiblich und männlich gelesen Musiker:innen gleichermaßen auf die Bühne zu bringen. Geht also doch!!!
Es ist inspirierend, Tag und Nacht über das Gelände zu streifen und so viel geballtes Empowerment zu erleben. Vor allem, wenn man mit hungerndem Magen an einer Cake Performance vorbeikommt, bei der 170 Kilogramm Kuchen an die hungernden Festivalbesucher:innen verteilt wird. Eskapismus ist auch in vieler Munde Form des Aktivismus.
Let’s have more “Last Dinner Partys”.
An einem Tag spielst du vor vier Leuten und Tags darauf vor 50.000 ekstatischen Fans. The Last Dinner Party haben 2024 einen wahnsinnigen Run hingelegt. Als die Musiker:innen am Donnerstag Abend auf der EOS Stage stehen, scheint es so als wären sie für einen kurzen Moment vollkommen überwältigt von der Masse der Menschen und dem Reality-Check, was hier gerade passiert. Es ist spürbar ein sehr besonderer Moment für die Musiker:innen und für die 50.000 Menschen, die das live miterleben.
Dann macht The Last Dinner Party das, was wirklich große Bands ausmacht. Die Musiker:innen nehmen das Gefühl des Moments, wandeln es in Musik und transportieren es zurück an das Publikum. Alles kommt zusammen was zusammen passt und das Bild, das TLDP mit ihren Instrumenten in den dänischen Nachthimmel zeichnet, ist geprägt von einer Stimmung, die ihresgleichen sucht. In Roskilde ist an diesem Abend die Magie der Musik greifbar nah.
Day Four.
Charlie lost her passport.
Einmal raus aus “Dream City” bitte.
Es ist Halbzeit in Roskilde und Körper und Geist merken mittlerweile, dass Festival auch Dauerbelastung sein kann. Zeit um Luft zu holen.
Bekanntlich liegt Roskilde in Dänemark und neben Hygge und Lakritz ist die Seefahrer:innen Nation natürlich auch für eins bekannt: Wikinger:innen. Darum nichts wie hin ins Vikingeskibs Museet am Hafen von Roskilde, um einfach mal die Seele baumeln zu lassen. Hier kann man neben originalen Langskips (Langschiff) aus den Jahren um die erste Jahrtausendwende auch dabei zusehen, wie dänische Bootbauer:innen die Techniken von damals, heute anwenden. Es riecht nach Lärche und Salzwasser und der Blick auf das Meer lässt alle Anspannung abfallen. Bootsbauer:innen lieben diesen Ort.
Norwegischer Feengesang aus dem dänischen Moor.
Mit neuer viking styrke ausgestattet geht es zurück zum Festival-Ground, der sich durch Regen und Tanzwut mehr und mehr in eine wundervolle Schlammlandschaft verwandelt.
Mit einem mal steigt aus dem aufgeweichten Boden eine Stimme, die unwillkürlich ihre Fänge um die Ohre schlingt und alle hin zur großen Bühne lockt. Da steht dann auch tatsächlich die Quelle des Sirenengesangs, der wie warmes Wasser durch die Poren dringt. Aurora tanzt und hüpft und singt, natürlich barfuß (wie es sich für eine Fee gehört) durch Sonne, Wind und Regen. Dabei unterstreichen die Elemente ihre Performance so, als hätte die Sängerin eine geheimnisvolle Macht über das wechselhafte Wetter. Ob der Norden aus dem Südländer wohl langsam einen Mystiker macht? Es scheint fast so.
Spanische Fangesänge im dänischen Exil.
Spontan wird dann im Pressebereich ein kleines Public-Viewing Event veranstaltet. Deutsche und spanische Journalist:innen starren gebannt auf einen kleinen 16 Zoll Laptopbildschirm. Es ist ja schließlich immer noch EM im eigenen Land. Tja, die Spanier waren am Ende lauter und glücklicher aber trotzdem bleibt ein ganz besonderes Fußballerlebnis, während vom Gelände her die Musik herüber dröhnt.
“I don’t care. I love it.”
Lange kann die deutsche Delegation nicht die Wunden lecken. “Fucking Charlie XCX is calling.” Man munkelt, dass der oder die eine ganz froh über das Ausscheiden ohne Elfmeterschießen ist, weil sonst wäre man möglicherweise zu spät zu Queen Charlie gekommen.
Tja und dann ist sie selbst gemütliche 20 Minuten “late”, wie es sich für eine Königin gebührt, weil sie nach eigener Aussage leider ihren Pass verloren hat. (Dann wäre das Elfmeterschießen doch noch drin gewesen. Schade.) Aber alles ist Vergessen, als Charlie auf die Bühne tritt und das Arena Zelt zum kochen bringt. Party machen kann sie! Dann kommt auch noch Caroline Polachek als Überraschungsgast und das Publikum rastet komplett aus. Plötzlich ist es vielleicht ganz gut weiter hinten zu stehen, hier ist zumindest ausreichend Platz um alle Glieder wild durch die Luft werfen zu können. Die Wellen der Ekstase reißen nicht ab und am Ende bleibt ein surreales Gefühl, ob das Ganze gerade wirklich so passiert ist.
Day five.
Auf- und Abbruchstimmung.
From Roskilde with Love.
Tänzelnd kommt er auf die Bühne, mit den charakteristisch kleinen Augen und dem frechen Lächeln, der sympatische Tausendsassa Action Bronson. Als Koch, Rapper, Entertainer und Großmeister des Genusses kennt er sich aus mit dem intensiven Leben. Wahrscheinlich fühlt man sich deshalb eingebettet in die eigene Festival Erfahrung sofort verstanden, von ihm und seiner Musik. Der Sound ist fantastisch groovy, das Saxophon von einer anderen Welt und Bronson einfach nur in seinem Element. Als zweimal die halbe Flasche Rosé in den stilvollen Plastikbecher vom Bühnenrand gefüllt wird, wird es kurz sehr lustig. Ist das nicht der eine Franzose, der in “From Paris with Love” versucht hat mit Action Bronsons Konsum mitzuhalten und dabei auf sehr amüsante Weise gescheitert ist? Doch ist er! Auch Live liefert Action Bronson also das Komplettpaket. Fehlt nur noch der Snack.
Sonderstimmung: letzter Tag.
Es liegt in der Luft, dass das Roskilde Erlebnis langsam zum Ende kommen muss. Die Stimme ist langsam komplett weg, wie sich Wärme und Sauberkeit anfühlen ist ungewiss und die neuen Eindrücke fließen in ein Gefäß, dass eigentlich schon seit drei Tagen voll ist. Die einzelnen Tage sind zu einer farbenfrohen Masse verschwommen die man nur durch Anstrengung noch auseinander halten kann und der Fokus ist unberechenbar. Es folgt eine Assoziationsliste:
Oh krass, da spielt PJ Harvey auf der Hauptbühne. Echt schön.
“Komm lass uns noch auf den Campingplatz schaun.” – “Wie schlimm ist es?” – “Schlimm…Aber lustig.”
Ist das Dänisch oder kann ich einfach kein Deutsch mehr?
Wie sieht eigentlich Boden ohne Schlamm aus?
Ich glaube es wird Zeit zu gehen…
Day Six.
Luft zum Atmen.