Die sechs Darsteller:innen auf der Bühne des Marstalls

Theaterkritik

Marienplatz

/ / Bild: Sandra Then

Ein Mensch hat sich angezündet. 2017 mitten auf dem Münchner Marienplatz. Und niemand hat es mitbekommen. Drei Jahre später denkt Jung-Autor Beniamin M. Bukowski in seiner Resi-Auftragsproduktion Marienplatz über die Frage nach: Wozu brennen, wenn es niemand sieht?

Budenzauber, Christbaumkugeln, Glockenspiel: Marienplatz in weihnachtlichem Setting.
Bild: Sandra Then.

Hätte man als Zuschauer:in die Stückbeschreibung nicht gelesen, man könnte glauben, bei Marienplatz handele es sich um ein Weihnachtsstück. Das Bühnenbild besteht aus Christkindlmarkt-Ständen, wie sie zum Zeitpunkt der Premiere (am 4. Advent) wohl auf dem Marienplatz stünden, wenn nicht gerade Corona wäre. Die sechs Darsteller:innen tragen verschieden bunte Overalls, die ein bisschen aussehen wie Retro-Ski-Anzüge. Dekoriert ist alles mit blinkenden Leucht-Eiszapfen, Christbaumschmuck und mannshohen Adventskerzen. Und über allem thront die Marienstatue, diffus projiziert auf den schwarzen Hintergrund der Marstall-Bühne.

Was hat Weihnachten mit ritueller Verbrennung zu tun? Nichts.

Das Epizentrum dieses Stückes ist jedoch ganz und gar nicht weihnachtlich, es ist ein reales Ereignis vom 19. Mai 2017. An diesem Tag ist ein Unbekannter in den frühen Morgenstunden mit seinem Auto auf den Marienplatz gefahren, hat sich mit Brandbeschleuniger übergossen und angezündet. Zurückgelassen hat er nur zwei dubiose Botschaften, mit denen er seinen Wagen in großen Buchstaben versehen hat: „Nie wieder Krieg auf deutschem Boden“ und „(Anis) Amri war nur die Spitze des Eisbergs“. Motiv und Identität des Mannes: praktisch ungeklärt. Der Marienplatz in den frühen Morgenstunden: praktisch leer. Das Presse-Echo damals zur Tat: praktisch nicht vorhanden.

Einer der Rekonstruktionsversuche des 19. Mai 2017.
Bild: Sandra Then.
„Der Mann vom Marienplatz hat sich selbst geopfert. Aber wozu hat er es getan? Und was für einen Sinn hat eine Selbstopferung, wenn es niemand wahrnimmt?“ 
– Moritz von Treuenfels als der Autor in Marienplatz

Wie ein Fremdkörper liegt dieses Thema im Zentrum der beschaulichen Weihnachts-Szenerie. Wie etwas Verstörendes, das sich niemand anzufassen traut, von dem aber auch niemand wegsehen kann. Immer wieder kommt die Handlung auf diesen 19. Mai zurück, stellt vier Deutungsversuche des Tathergangs an, dreht sich darum wie Motten ums Licht.

„Wie konnte er den Schmerz ertragen? Wie fühlt es sich an, zu verbrennen?“ 
– Thomas Lettow in Marienplatz

Unterdessen streut Autor Bukowski, der sich selbst in sein Stück mit hineingeschrieben hat, Anekdoten aus eigenen München-Erlebnissen (Butterbrezen spielen hierbei eine wichtige Rolle) und Erzählungen des Alten Testaments mit ein. Die Schauspieler:innen wechseln leichtfüßig Rollen und Szenen, springen zwischen Polizeibericht, Bibelzitat und Gesang hin und her. Doch irgendwie scheint das alles – Kernthema, Bühnenbild, Zitate, Recherchen, Erinnerungen – ganz und gar nicht zusammenzupassen. Eine Revue aus Versatzstücken, die sich zu keinem Gesamtbild zusammenfügen wollen.

Leere Hüllen

Außer man fasst das alles als Metapher: Eine öffentliche Selbstverbrennung ohne Öffentlichkeit. Ein Opfertod ohne erkennbar höhere Idee. Das Weihnachtsfest, an dessen Kern in einer säkularen Gesellschaft kaum noch jemand glaubt. Die biblische Opferung Isaaks, die ja letztlich doch abgewendet wird. Eine Bühnenaufführung ohne Präsenz-Publikum. Ein wahrheitssuchendes Stück ohne gesicherte Wahrheiten. Große Gesten ohne Inhalt. Fragen, die niemand (mehr) beantworten kann. Leerstellen.

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Mehr Informationen
Teaser zu Marienplatz im Rahmen der YouTube-Reihe Tagebuch eines geschlossenen Theaters

Das alles macht Marienplatz zu einem etwas mysteriösen, verkopften Abend. Jedoch ist die schauspielerische (und besonders hervorzuheben: musikalische) Leistung aller Beteiligten so stark, die Regie-Arbeit stringent, das Bühnen- und Kostümbild so verblüffend und humoresk, die Denkansätze so philosophisch, dass es dennoch abholt und etwas staunend zurücklässt.

Marienplatz ist in Theater gegossenes Nachdenken. Ein rätselhaftes Stück, umso rätselhafter da verbannt ins Exil Internet – insgesamt aber doch geglückt.

Marienplatz ist im Rahmen der ans Residenztheater angebundenen Plattform Welt/Bühne entstanden, die internationale Dramatiker:innen mit zweimonatigen Residenzen plus Aufführungen fördert. Das Stück hatte am 20.12.2020 als Webstream Premiere, weitere Termine: 27. und 30.12.20. Weitere Vorstellungen sind in Planung.

Regie: András Dömötör | Autor: Beniamin M. Bukowski

Besetzung: Liliane Amuat, Nicola Kirsch, Thomas Lettow, Hanna Scheibe, Myriam Schröder, Moritz von Treuenfels

Weitere Informationen unter https://www.residenztheater.de/stuecke/detail/resi-stream-marienplatz