Menschenrechte Online

Für mehr Unbehagen

/ / Jean Ziegler (o.l.), Milo Rau (o.r.) und Martin Valdés-Stauber im Live-Gespräch.

Die derzeitige Pandemie ist für viele Staaten und Individuen der Anlass, sich zurückzuziehen. Ins Nationale, ins Häusliche. Die Kammer 4 der Münchner Kammerspiele stellt sich dem mit einer Diskussion zu Jean Zieglers neuem Buch Die Schande Europas entgegen – und thematisiert stattdessen die Krisen an den europäischen Grenzen und außerhalb davon.

Das kulturelle Leben ist im Stillstand. Langsam gewöhne ich mich daran, dass Kultur vor allem online stattfindet. Doch was macht das mit dem Politischen in der Kultur? Diskussionen und Lesungen, die explizit davon leben, dass Menschen anwesend sind, mitdiskutieren, sich einlassen, auseinandersetzen, können auf dem Bildschirm schnell wie Frontalunterricht wirken – und laufen Gefahr belehrend zu sein.

Die schändliche Krise

Die Kammer 4 der Münchner Kammerspiele wagt sich dennoch mit einem Live-Gespräch zwischen Jean Ziegler, Milo Rau und Martin Valdés-Stauber über Corona hinaus und diskutiert die politische Krise der europäischen Wertegemeinschaft. Die Schande Europas berichtet von den Zuständen im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos: von der ungenügenden Nahrung, der mangelnden hygienischen Versorgung und so auch von der Schande Europas. „Was ich in Moria gesehen habe,“ sagt Jean Ziegler, Berater des Menschenrechtsrats der EU, „habe ich noch nie gesehen, insbesondere die Selbstverstümmelung der Kinder, die häufigen Selbstmordversuche der verzweifelten Kinder.”

Entlang dieses Entsetzens führt das Gespräch hin zum Versagen. Dem Versagen der Umsetzung von Werten wie Menschenrechten und europäischer Solidarität, mit denen sich viele Staaten gerne brüsten, und zum Versagen der Wertegemeinschaft EU. Jean Ziegler und Milo Rau scheinen uns stumme und unsichtbare Online-Zuhörer*innen in ihrer lebhaften Diskussion fast zu vergessen, manchmal wird es etwas schwer verständlich. Und doch sind ihre Analysen scharf, wenn sie über die Ökonomisierung vom Leid der Geflüchteten und Migrant*innen in Italien und Griechenland sprechen. Oder anerkennen, dass der globale Süden in den Grenzen Europas eingeschrieben ist. Und genauso, wenn sie feststellen, dass die EU demokratisiert werden muss.

Kunst schafft Realitäten

Letztendlich stellt sich die Frage nach den eigenen Möglichkeiten. Also, was können Kunst und Zivilgesellschaft tun? Aufmerksam machen, sind sich die drei Männer einig. Und Milo Rau geht sogar weiter: „Kunst kann nicht nur Realitäten beschreiben, sie kann Realitäten schaffen“. 2015 bewies er dies mit seiner vielbeachteten Dokumentation Das Kongo Tribunal, in dem durch die Inszenierung eines Gerichtsverfahrens zum Kongokrieg in der Republik Kongo Verbrechen öffentlich verhandelt und so letztendlich neue Realitäten geschaffen wurden. Durch eine „utopische Dokumentation“, wie Rau sie nennt, durch die Vollendung und Einforderung des Rechts, das Menschen eigentlich zusteht, kann künstlerischer Protest erfolgreich sein. „Handeln ist möglich“, so Rau, derzeit Intendant des NTGent.

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Trailer: Das Kongo Tribunal

Das Unbehagen am Küchentisch

Die offene Konfrontation mit den Analysen von Intellektuellen wie Rau, Ziegler und Valdés-Stauber erfüllt mich vom Küchentisch aus mit Erleichterung und mit Unbehagen. Erleichterung, weil etwas ausgesprochen und thematisiert wird, für das es sonst wenig Öffentlichkeit gibt. Und sehr viel mehr Unbehagen, weil ich mich am Küchentisch zuhause noch weniger der Illusion hingeben kann, im Moment aktiv zu sein, widerständig zu sein.

In der Corona-Krise schwemmen via Internet alle Themen ins eigene Zuhause, die sonst ausgelagert werden können. Wenn ich aus dem Theater und der politischen Lesung wieder herausgehe, ja dann bin ich möglicherweise bestürzt, nachdenklich, wütend. Und doch steige ich in die U-Bahn und widme mich wieder den akuten Hürden des Lebens. Das funktioniert Zuhause jedoch nicht. In einer Zeit, in der die Handlungsmöglichkeiten noch beschränkter sind als zuvor, kann das Bewusstsein für unvorstellbare Ungerechtigkeiten direkt auf dem Bildschirm nach Hause einströmen. Das erzeugt Unbehagen, denn noch unausweichlicher stellt sich mir die Frage: Handeln ist möglich, aber wer handelt, jetzt gerade und generell? Und bis gehandelt wird, denke ich mir, ist es das Mindeste mich Einem zu stellen: dem Unbehagen.