Kommentar
Ist doch alles nur ein Spiel
Corona ist meine Zeitmaschine. Ich bin wieder 15. Viel Freizeit daheim, schlechte Ernährung aus der Tiefkühltruhe und Online-Spiele. Aber es ist nicht mehr das Gleiche wie damals mit 15. Meine Reflexe sind gefühlt nur noch halb so gut und ich habe heute einen anderen Blick auf die Art und Weise, wie große Blockbuster-Spiele inszeniert werden. Besonders bitter stößt ist mir das in den letzten Tagen bei einer der größten Spieleserien aller Zeiten, „Call of Duty“ auf – als Beispiel unreflektierten Umgangs mit der verkürzten oder ignorant dargestellten Realität. Ein Kommentar von Lucas Streitwieser
Anfang März veröffentlichte der Publisher „Activision“ den Battle-Royale-Shooter „Call of Duty Warzone“. Das Spiel baut zwar auf dem Grundgerüst des im Oktober erschienenen „Call of Duty – Modern Warfare“ auf, ist aber sonst unabhängig und wird umsonst angeboten. Und das Timing hätte nicht besser sein können. Über fünf Millionen Spieler in den ersten paar Tagen – die Coronakrise als Katalysator. Ein Kumpel und ich sind auch dabei. Wir spielen unsere erste Runde. Soweit alles Battle-Royale-Einheitsbrei. 150 Spieler werden in Teams auf einer Insel abgesetzt, sammeln Ausrüstung und bekämpfen sich, bis nur ein Team übrig bleibt. Wir schaffen es gerade einmal 90 Sekunden lang, am Leben zu bleiben, bis es uns erwischt. Aber statt einem „Game Over“ startet ein kleines Video. Wir werden in die „Gulag-Duschen“ gebracht. Eine kleine Arena, in der sich jeweils zwei ausgeschiedene Spieler einen Zweikampf liefern. Der Sieger bekommt eine zweite Chance, kommt aus dem Gulag frei und wird wieder auf der Insel abgesetzt.
Spielmechanisch eine ziemlich coole Idee, kontextuell aber äußerst fehl am Platz. „Warzone tritt hier leider in die Fußstapfen von „Modern Warfare“. Es greift ernste und der Realität entnommene Themen auf, beschäftigt sich aber nicht im Geringsten mit den Hintergründen. Das raubt mir als Spieler den Spaß am Spiel, grenzt an Geschmacklosigkeit und ist eine leichtfertig vergebene Chance, Videospiele als ernstzunehmendes Kulturprodukt zu etablieren.
Eine gescheiterte Gratwanderung
Zur Einordnung lohnt ein Blick zurück auf das im Oktober erschienene „Modern Warfare“. Auch hier gilt: Es ist schon lang erprobte Spieleentwicklung und gängig, dass sich Unterhaltungsprodukte reale Schauplätze und Szenarien zum Vorbild nehmen und diese dann durch den Hollywood-Fleischwolf drehen. Das stellt an sich kein Problem dar, sondern ist die Antwort auf die Nachfrage nach immer realitätsnäheren Gaming-Erlebnissen.
Dabei ist es allerdings höchst diskutabel, wenn ein Publisher ein Videospiel verkauft, das thematisch gerne „Schindlers Liste“ wäre, aber trotzdem inszeniert ist wie ein „Terminator“. Beides für sich genommen super Filme, aber keine gute Mischung. Und genau diese Fusion versucht „Modern Warfare“. Einerseits soll der Spieler in jeder Sekunde unterhalten werden und sich wie ein cooler Actionheld fühlen. Andererseits soll er aber mitfühlen mit zivilen Opfern und die realen Grausamkeiten des Krieges am eigenen (digitalen) Leib erfahren. Das führt aber dazu, dass die Grenzen dieser zwei Facetten oft verschwimmen. Das Resultat: Beide Aspekte leiden darunter.
Identitätskrise
So muss ich im Spiel zum Beispiel als kleines Mädchen zwei Soldaten entkommen, die mich entführen wollen, nachdem sie meine Eltern ermordet haben. Meine zehnjährige Spielfigur findet dabei einen Revolver, kann ihn aber wegen seines Gewichts kaum heben. Zwischen den Schüssen, die ich abgeben kann, liegen deshalb einige Sekunden. Die Lösung um trotzdem beide Soldaten überwältigen zu können? Den perfekten Winkel finden, um beide mit nur einer Kugel zu treffen. Dafür gibt es sogar ein extra Achievement mit lustigem Wortspiel: „Two Birds“. Es wirkt, als ob das Spiel kurz vergessen hätte, worum es hier gerade geht. Ich bin gerade kein cooler Supersoldat, der zu Metal-Musik ein paar Headshots verteilt, sondern ein kleines Mädchen, das gerade seine Eltern hat sterben sehen und jetzt um das nackte Überleben kämpft.
Das ist nicht nur geschmacklos, sondern lässt die ganze Sequenz zu einer Selbstparodie verkommen, bei der ich nur mit den Augen rollen kann. Und das macht weder Spaß, noch regt es mich zum Nachdenken an. Genau wie die schreckliche Historie der Gulags degradiert man hier das Leid von Kriegsweisen zur billigen Kulisse für seinen Action-Spielplatz. Neben der Geschmacklosigkeit werde ich als Spieler dermaßen aus dem Kontext gerissen, dass mir der Spielflow verloren geht und ich am Sinn dieser Spielszenen zweifle – Chance vertan.
Keine halben Sachen, bitte!
Das ist doppelt schade, weil es auch anders hätte laufen können. Es gibt genug Spiele, die sich solchen Themen auf eine kreative und herausfordernde Weise annehmen. Allerdings fliegen diese Titel meistens unter dem Radar. „Call of Duty“ ist eine gigantische Marke und hätte der breiten Öffentlichkeit zeigen können, dass auch Videospiele angemessen mit heiklen Motiven umgehen können, wie alle anderen etablierten Kulturgüter auch. Dem Ringen nach Akzeptanz für Videospiele mit gewalttätigem Inhalt hat das Call of Duty-Imperium keinen Dienst geleistet.
Schon während einer Präsentation im Juni 2019 betonte der „Campaign Gameplay Director“, Jacob Mincoff einer Journalistin der Website „Kotaku“ gegenüber, man habe viele Soldaten als Berater engagiert, da man nicht vor den harten Realitäten zurückschrecken wolle, die Menschen während des Krieges durchleiden müssen. Auf die Nachfrage, ob man auch mit den Opfern sexueller Gewalt gesprochen hätte, da diese in der vorgeführten Szene angedeutet wurde, ruderte Mincoff aber sofort zurück: „Modern Warfare“ sei ein fiktives Unterhaltungsprodukt ohne Bezug zu realen Ereignissen oder tatsächlich existierenden Personen. Deshalb habe man das nicht getan. Ein Widerspruch in sich. Die angesprochene Szene wurde nach dieser Pressevorführung aus dem Spiel entfernt. Und genau diese Scheu, eine klare Linie zu fahren, merkt man „Modern Warfare“ in jeder Faser an. Der Wille, das Publikum herauszufordern endet, sobald die Gefahr besteht, Spieler vor den Kopf zu stoßen, zum Reflektieren zu bringen und so den Spielspaß und damit auch die Verkaufszahlen zu gefährden.
Fazit
Mit Blick auf die Szenen aus den Gulag-Duschen in „Warzone“ wirken diese vor diesem Hintergrund leider wie eine logisch folgende undurchdachte Weiterführung der Geschmacklosigkeit. Die Gulag-Duschen haben keinen tieferen Sinn als nur den einer einfachen Arena, wie sie hunderte andere Spiele auch haben. Sie sind Beleg für den halbherzigen Umgang mit ernsten Themen, die dann ohne jede Berechtigung oder Kontext als digitaler Spielplatz dienen sollen. Neben dem zwischenzeitlich unbestreitbaren Spielspaß bei „Warzone“ lassen mich diese Szenen trotzdem jedes Mal mit einem flauen Gefühl im Magen zurück, wenn ich in den „Gulag-Duschen“ abgesetzt werde. Jedes Mal ein Stück verlorene Chance mehr.