Buchkritik

Hier liegt Bitterkeit begraben – über Ressentiments und ihre Heilung

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Gewalt, Spaltung und Radikalisierung: die europäischen Demokratien sind aktuell von allen Seiten unter Beschuss. Die französische Philosophin und Psychologin Cynthia Fleury identifiziert unterdrückten Hass und Neid der Bürger:innen als eine zentrale Ursache dafür. In ihrem neusten Buch “Hier liegt Bitterkeit begraben” untersucht sie die Auswirkungen unserer Ressentiments und liefert Ansätze zur Überwindung dieser gesellschaftlichen Krise. Heraus kommt ein hochkomplexes Buch an der Schnittstelle von politischer Philosophie und Psychoanalyse, das investierte Leser:innen mit interessanten Gedanken und Theorien belohnt, für Laien aber nur schwer zugänglich ist.

Fleury teilt ihr Buch in drei große Teile: Erst thematisiert sie die Entstehung des Ressentiments im Individuum, dann die kollektiven Auswirkungen auf die Gesellschaft und schließlich die mögliche Überwindung dieses Problems. Ressentiments entstehen im Menschen durch unterdrückten Hass und Traumata und wirken laut Fleury wie Gift: sie töten Vernunft und Kreativität und machen die Betroffenen zu unfreien Sklaven ihrer eigenen psychischen Komplexe. Damit hat das kollektive Ressentiment schwerwiegende gesellschaftliche Auswirkungen, denn es verhindert Offenheit und Toleranz und sorgt für ein gesellschaftliches Denken in vorgegebenen Bahnen.

Weil die Ressentiments aber auch die eigene Urteilskraft vergiften, gestaltet sich ihre Überwindung als äußerst schwierig. Es entsteht ein Teufelskreis der gegenseitigen Verletzung und Beschuldigung, der von vielen Menschen mit Betäubung durch Konsum und Opfermentalität kompensiert wird. Fleury sieht hier den entscheidenden Fehler: Ressentiments können wir nur durch das Übernehmen von Verantwortung und nicht durch eine klagende Opferhaltung überwinden. Natürlich erkennt sie das Leiden und die Traumata der Menschen als real an – es gilt aber zu verhindern, dass wir ein Leben lang von diesen unbehandelten Wunden beherrscht werden. Denn die individuelle und kollektive Befreiung aus den Zwängen der Ressentiments ist laut Fleury der Schlüssel zu freiem Denken, Innovation und damit positiver Veränderung in unserer Gesellschaft.

Doch das Buch ist kein leichtverdaulicher Ratgeber, der direkte Tipps oder vorgefertigte Gedankenhäppchen serviert. Die inhaltliche Dichte ist sehr fordernd und erstmal überwältigend, was auch daran liegt, dass die Autorin aus der Philosophie kommt. Fleurys Schreibstil ist sehr abstrakt und metaphorisch – ihre Thesen trägt sie meist durch assoziativen Aneinanderreihungen von Gedanken vor. Zudem wird alle paar Zeilen ein historischer Standpunkt aus der Philosophie, Psychologie oder Soziologie zitiert, mit einer anderen Position verglichen oder von Fleury neu interpretiert – und das ohne viel Kontext. Das Buch setzt also ein solides Grundwissen voraus und fordert viel Aufmerksamkeit beim Lesen.

Trotz ihrer theoretischen Ausrichtung sind Fleurys Ausführungen unmittelbar auf die politische und gesellschaftliche Praxis anwendbar. Das Ressentiment lässt sich in jedem aktuellen sozialen Problem als eine zentrale Ursache erkennen und Fleurys Argumentation trifft auf ganzer Linie den Zahn der Zeit. Ihre Kombination von Methoden aus Psychoanalyse und Philosophie ist genial und eröffnet neue Blickwinkel auf klassische Probleme, wie z.B. die Frage des freien Willens. Das Buch hat damit das Potenzial, eure Sicht auf Mensch und Demokratie nachhaltig zu beeinflussen.

Cynthia Fleurys “Hier liegt Bitterkeit begraben” kostet 28€ als Hardcover und 24€ als E-Book. Für Menschen, die eine entspannte Bettlektüre für die Semesterferien suchen, ist das Buch nicht zu empfehlen. Wer in der vorlesungsfreien Zeit aber nach intensiver Gedankenstimulation sucht, wird hier mit Sicherheit fündig und sollte zuschlagen. Für alle Unentschlossenen gibt es hier eine Leseprobe zum freien Download.