M94.5 Filmkritik
Haute Couture mit Panikattacke
Nicht mehr als acht Wochen hatte Raf Simons, um eine der renommiertesten Modenschauen der Welt in seiner Interpretation auf dem Laufsteg zu inszenieren: In Dior und Ich darf man ihm bei seinem Debut für die Pariser Traditionsmarke beobachten.
Am Ende steht er da mit zitterndem Unterkiefer, Tränen in den Augen und bekommt kaum noch Luft: Der sonst so cool wirkende Raf Simons ist kurz vor der Modenschau am Ende seiner Kräfte. Kein Wunder: Für das weltbekannte Modehaus Dior wurde er im Frühjahr 2012 als Kreativdirektor geholt. Nach dem unrühmlichen Ende seines Vorgängers bleiben ihm nur zwei Monate, eine Haute-Couture-Kollektion auf den Laufsteg zu bringen. Die Erwartungen an ihn sind enorm.
Der Wahnsinn des Haute-Couture-Zirkus
“Warum der Aufstand? Sind doch nur überteuerte Klamotten!”, mag sich manch einer denken. Tatsächlich hängt an diesen Klamotten jede Menge Arbeit und jede Menge Geld. Regisseur Frédéric Tcheng ermöglicht mit seiner Dokumentation einen eindrucksvollen Blick hinter die glaumourösen Kulissen der Haute Couture, der Königsklasse der Schneiderkunst.
Raf Simons, der Unerwartete
Der Belgier Raf Simons galt schon vor seinem Engagement bei Dior als vielversprechender Kreativer. Weil er sich aber als Minimalist bei Jil Sander mit Prêt-à-porter – also Mode von der Stange – einen Namen gemacht hatte, waren viele überrascht, ihn bei Dior zu sehen. Ein Mann, dessen Französisch oft nicht ausreicht, sich mit seinen Schneiderinnen zu verständigen, versucht sich in Rekordzeit in die Geschichte der Traditionsmarke einzuarbeiten und sie neu zu interpretieren.
Die zwei Persönlichkeiten des Christian Dior
Die Dokumentation stellt den Neuen in Kontrast zum Gründer des Hauses: Der Regisseur vergleicht die beiden, deren Werke so unterschiedlich wirken. Tcheng nutzt einen erzählerischen Kunstgriff, der in diesem Film überhaupt nicht gekünstelt wirkt.
Eigentlich basiert der Titel des Films auf den Memoiren Christian Diors. Der beschreibt darin, wie seine Arbeit ihn in zwei Persönlichkeiten zerteilt hat – den Privatmann und den Modeschöpfer. Simons, der Diors Memoiren lesen wollte, sagt im Film, dass er das Buch weglegen musste: Zu sehr habe er sich selbst darin erkannt. Tatsächlich wird beiden nachgesagt, dass sie reservierte, eher schüchterne und bescheidene Männer seien, in einem Business, das eher laut, ausschweifend und elitär daherkommt.
Die Ateliers als Seele der Marke
Viel weniger glanzvoll als auf den Laufstegen sieht es in den Ateliers aus: Jede Menge harte Arbeit unter enormem Zeitdruck. Und der Konflikt, zugleich die Visionen des Designers umzusetzen und die Wünsche der Kunden zu befriedigen. Aushalten müssen diese Spannung die Schneider, manche von ihnen arbeiten schon 40 Jahre bei Dior.
Wer Dior und Ich anschaut, bekommt eine kleine Ahnung davon, dass Haute Couture – zumindest für seine Macher – nicht nur Stoff gewordene, überteuerte Oberflächlichkeit bedeutet. Natürlich geht es dabei auch um Geld: “Haute Couture muss Geld einbringen, sonst können wir uns solche Kollektionen nicht leisten oder solche Ateliers unterhalten”, sagt die Verkaufsleiterin. Für Designer und Schneider steht der wirtschaftliche Erfolg an zweiter Stelle. Sie stecken all ihr Herzblut und ihr Können in die Kollektionen und stehen dadurch bisweilen am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Diese Leidenschaft mag Regisseur Frédéric Tcheng mit seiner schön anzuschauenden und trotzdem nachdenklichen Dokumentation vielleicht sogar Zuschauern nahebringen, die sonst mit Mode nichts anzufangen wissen.
“Dior und Ich” läuft ab dem 25. Juni 2015 in den deutschen Kinos.