Kommentar
Gemeinsam.
Eine Reform zur Abschaffung des konfessionellen Religionsunterrichts wird von offizieller oder zumindest rechtskundiger Stelle oft mit Verweis auf geltendes Recht als utopisch oder gar unmöglich verworfen. Denn neben der Bayerischen Verfassung heißt es auch im Grundgesetz Artikel sieben, Absatz zwei: „Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen“ und Absatz drei: „Der Religionsunterricht ist […] ein ordentliches Lehrfach. […] der Religionsunterricht [wird] in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“. Eine Debatte sei hier also nur Kraftverschwendung, eine Veränderung ein Rechtsbruch, lautet die Folgerung. Das ist jedoch falsch. Ein Kommentar von Marius Antonini.
In einer Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts haben die Richter:innen bereits im Jahr 2007 erklärt, dass das Land Berlin mit seinem für alle verpflichtenden Ethikunterricht nicht gegen die Verfassung verstößt. In juristischem Wortlaut heißt es in der Pressemitteilung:
„Die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog ist eine Grundvoraussetzung nicht nur für die spätere Teilnahme am demokratischen Willensbildungsprozess, sondern auch für ein gedeihliches Zusammenleben in wechselseitigem Respekt vor den Glaubensüberzeugungen und Weltanschauungen anderer. Im Rahmen des staatlichen Erziehungsauftrags darf der Landesgesetzgeber mit Rücksicht auf die tatsächlichen Gegebenheiten und die religiöse Orientierung der Bevölkerung daher die Einführung eines gemeinsamen Ethikunterrichts für alle Schüler ohne Abmeldemöglichkeit vorsehen, um so die damit verfolgten legitimen Ziele gesellschaftlicher Integration und Toleranz zu erreichen und den Schülern eine gemeinsame Wertebasis zu vermitteln.“
(Nr. 48/2007 vom 19. April 2007)
Es gibt also die rechtliche Möglichkeit für einen solchen übergreifenden Religionsunterricht in allen Bundesländern. Das Land Berlin hat konfessionellen Religionsunterricht zwar nicht ganz abgeschafft, es bietet ihn als Wahlunterricht am Nachmittag an. Allein der Wille scheint hier zu fehlen. Ein solch differenzierter Umgang mit dem Thema Religion wäre auch in Bayern vorstellbar, wenn sich auch die Kirchen hierzulande dem Thema öffnen würden.
Platz für Diskurs
Menschenrecht, Nächstenliebe und auch das Wesen unserer Verfassung seien die Inhalte des konfessionellen Religionsunterrichts, wird häufig zu Recht angeführt. Dabei blenden die Verteidiger:innen des Unterrichts aus, dass sich Menschenrecht und Nächstenliebe auch mittels aufgeklärter Philosophie erklären lassen. Demnach ist es auch schlichtweg falsch zu behaupten, dass der Ethikunterricht für Alle das nicht in gleichem Maße leisten könne.
Vielmehr: Er könnte es besser. Er liefert nicht alternative, sondern sich häufig ergänzende Erklärungen für diese Werte. So können selbstverständlich religiöse Ideen und Ansätze neben denen der Aufklärung und Wissenschaft stehen. Weshalb sollte ein Ethikunterricht das nicht können? Ein solcher würde den christlichen Erklärungsansatz gar nicht ausschließen. Egal ob Religion nun auf einem Wort Gottes* basiert oder als Regelwerk für ein sicheres Leben von den Herrschenden erdacht wurde: Lehrende sollten das Wissen über sie allen Schüler:innen vermitteln, in gleichem Umfang, in gleicher Weise.
Skeptiker:innen des konfessionellen Religionsunterrichts bezweifeln zurecht, dass Religionsunterricht überhaupt in den Lehrplan passe, so vermittelt er doch eher Bekenntnisse statt Erkenntnisse. Oft diskutieren Kritiker:innen und Verteidiger:innen ohne Ziel. Dabei stellen sie Fragen, auf die es keine Antwort gibt.
Ein schmaler Grat
Bei der Vermittlung von Wissen über Religion bewegen sich Lehrende auf einem gefährlich schmalen Grat, da es zu einer Verschmelzung von Vertrauens- und Machtperson Religionslehrer:in und dem privatem Menschen kommt, der seine Sicht auf die Welt in die Debatte mit einbringt. Diese Kombination aus Macht und Nähe ist für Schüler:innen riskant, sie könnten in ihren Grenzen verunsichert sein und sind dem Wohlwollen, dem Verantwortungsgefühl dieser Person schutzlos ausgeliefert.
Auch für Lehrkräfte kann diese Verantwortung zu Bürde werden. Kinder sollten miteinander lernen, untereinander Gruppendiskussionen führen, anstatt möglichen dogmatischen Lehren zu lauschen. Besonders im Fach Religion, das am Gymnasium über 12 Jahre mindestens in einer Doppelstunde vermittelt wird, sollte Platz für Diskurs sein.
Der bestehende Einfluss der zwei großen christlichen Kirchen auf die Schulbildung ist schon lange nicht mehr zeitgemäß und steht dem Bilden einer offenen Weltanschauung entgegen. So haben Kirchen Vetorecht bei den Inhalten des Lehrplans und auch bei der Personalauswahl. Sie haben auch das Monopol auf die Ausbildung von Lehrkräften. Diese können bis in ihre Intimsphäre in Bezug auf sexuelle Identität und Famlienstatus beeinflusst werden. Wer vom Idealbild der Kirchen abweicht, muss möglicherweise um seinen Job bangen.
Eine christliche Kirche, die in ihrer Geschichte Kreuzzüge und Hexenverbrennungen veranlasst und toleriert hat, muss differenziert und mit Distanz bei der Bildung von jungen Menschen gesehen werden. In Frankreich wäre so etwas undenkbar. Die Trennung von Kirche und Staat ist ein wichtiges demokratisches Gut.
Neue Möglichkeiten
Die Kirchen könnten mit einem übergreifenden Religionsunterricht sogar gewinnen, interne Reformen anstoßen und sich als Seelsorger, Diskussionsforum, Trostbringer neu erfinden. In den Schulen sollte dagegen offen über die Verbrechen der Kirchen gesprochen werden. Religionskritiker wie Albert Camus oder Epikur von Samos, dürfen in einer Ausbildung, die auf diese Welt vorbereiten soll, nicht fehlen.
Was das Individuum mit den Ansätzen, Punkten und Theorien anstellt, macht es zu einem aufgeklärten Menschen. Die Gefahr einer Indoktrinierung wäre gebannt. Für das Individuum kann Religion ein wichtiger Bestandteil des Lebens sein. Die Schule hat aber nicht die Aufgabe, junge Menschen hier zu bestärken oder vom Gegenteil zu überzeugen, sie soll bilden, nicht so sehr formen.
Nur im ehrlichen Dialog mit dem Gegenüber lernen wir uns verstehen. Die Resonanz, das miteinander Sprechen, hilft zu verstehen. Teilt man Klassen nach Religionen auf und unterrichtet sie getrennt, gibt es keinen Diskurs. Das Ignorieren von Gesprächsbedarf führt letztlich zu fortschreitender Fragmentierung der Gesellschaft. Grenzen in den Köpfen der Menschen entstehen oder verstärken sich. Diese Grenzen können lähmen, aber auch zu Misstrauen und Argwohn führen. Wir sollten im Diskurs nach einer allgemeinen Wahrheit streben, die nicht dogmatisch und ewig ist, sondern rational und unvollständig. Sie ist nur eine Momentaufnahme, aber sie entwickelt sich, sie lebt. Ein multikultureller Unterricht, der Raum für Gespräch gibt, wäre zumindest ein Anfang.