Dance 2019

Fúria

/ / Bild: Sammi Landweer

In dem Stück Fúria der brasilianischen Choreografin
Lia Rodrigues vereinen sich ekstatischer Tanz, ausdrucksstarke Körperbilder und eine hypnotische Musik zu einem Konvolut, das gesellschaftliche und politische Themen aufgreift und Misstände eindrücklich kritisiert.

Man erkennt den bunten Haufen, der am hinteren Rand der Bühne auf dem Boden liegt im gelb-schummerigen Licht kaum. Es scheint eine Art Lager zu sein, in dem inmitten von Plastikplanen, Stoff-Fetzen und Müll menschliche Körper auszumachen sind. Er herrscht Stille. Dann setzen langsam ein leises Trommeln und rhythmische Rufe ein, welche sich für die komplette Dauer der Vorstellung nicht verändern werden. Die Tänzer*innen schälen sich allmählich aus ihren Decken und beginnen sich gegenseitig in schwerfälligen Bewegungen über die Bühne zu ziehen. Was zunächst noch relativ durcheinander ist, wird bald zu einer geordneten Prozession, einem langsamen Zug, einem Protestmarsch mit anklagenden Blicken.

Stolze Blicke, starke Posen: das Ensemble um Choreografin Lia Rodrigues
© Sammi Landweer

Ausdrucksstarke Körperformationen

Teilweise mit Klamotten aus Plastik- oder Stofffetzen, teilweise nur mit blauer oder goldener Farbe auf nackter Haut angetan, zeigen die Tänzer*innen eine eigenwillige, energetische und wütende Choreografie, die voller Symbole steckt. In verschiedenen Gruppen stellen sie Themen und Situationen dar, die von Macht, Gewalt und Rassismus erzählen, aber auch von Befreiung, Sexualität und Freude. Nicht selten sind die dargestellten Körperformationen so prägnant, dass sie noch eine Zeit lang im Gedächtnis haften bleiben. Die nackte, blau bemalte Frau etwa, die mit blauer Zottelperücke und verdrehten Augen die Fäuste gen Decke schüttelt und in ihren Zuckungen an einen Dämon erinnert. Oder die Reihe von vier männlichen Tänzern, die in Sommerkleidchen wilde Hüftbewegungen ausführen und dabei den Blick auf ihr Geschlecht preisgeben. Oder die hohen Gruppenformationen, bei denen die Tänzer*innen auf Schultern und Rücken ihrer Kolleg*innen stehen und als Gesamtkörper mit stolzem Blick durch den Raum gleiten. Im Hintergrund sind dabei immer die gleichmäßigen Trommeln zu hören, die von den Ureinwohnern der Kanak stammen. Dabei stört es überraschenderweise gar nicht, dass sich ein Loop die ganze Zeit wiederholt. Es trägt viel mehr dazu bei, in einen rauschhaften Zustand zu kommen, der auch gut zu dem rituellen Charakter der Aufführung passt.

Die Stimme der Favela

Lia Rodrigues Ensemble stammt aus Maré, eine der größten Favelas von Rio de Janeiro. Das Bühnenbild und die Kostüme aus Plastikplanen und Stofffetzen beziehen sich darauf, aber auch die dargestellten Motive. Die Tänzer*innen bringen ganz ohne Worte Missstände zur Sprache, indem sie ihre Körper benutzen. Das ist teilweise erschütternd und beklemmend, aber hat eine ganz eigene, hypnotische Kraft. Am Ende, schon beim Verbeugen angekommen, entrollt das Ensemble noch drei Schilder und verwendet doch noch eindeutige Worte: “The Brazilian state is a killer” steht auf einem, “We need a world without prejudice” und “Who killed Marielle?” auf den anderen. Der Applaus für dieses kraftvolle, mutige und kritische Stück ist mehr als berechtigt.