Frauenrechte in der Welt

Fahrtwind für Freiheit

/ / Bild: Guilherme Veloso auf unsplash.com

Zum 100-jährigen Jubiläum des Frauenwahlrechts in Deutschland widmen sich die M94.5-Redakteure in einer Reihe der Frauenrechtssituation weltweit. Dieses Mal richtet sich der Blick nach Indien und auf die Frage, was Motorradfahren mit Emanzipation zu tun hat.

Eine Kolonne von Motorrädern auf Indiens Straßen. Darauf sitzen Frauen – nur Frauen. Die Bikerinnen des Delhi Bikerni Clubs treffen sich regelmäßig zu gemeinsamen Ausfahrten: Einige ihrer Räder sind mit Bändern geschmückt, die im Fahrtwind flattern. Ihre Körpersprache ist stolz, leicht und zeugt, ohne es zu betonen, von Freiheit!

So ein Anblick – die Bilder entstammen aus der neuesten Netflix-Doku-Reihe der CNN Journalistin Christina Amanpour – ist in Indien nicht nur selten sondern auch nicht unbedingt erwünscht. Denn die Situation der Frauen in diesem facettenreichen Land ist prekär. Weil sie an Bushaltestellen belästigt wurden, entschieden sich Frauen von Bikerni für das Zweirad. Der Club hat mittlerweile in ganz Indien Zulauf.

Belästigung von Frauen an der Tagesordnung

Indien ist laut einer Studie der Thomson-Reuters-Stiftung von 2018, in deren Kontext 548 Spezialisten weltweit befragt wurden, das gefährlichste Land für Frauen – noch vor Afghanistan und Syrien, die Platz 2 und 3 belegen. Täglich werden mehr als 100 Vergewaltigungen angezeigt. Dabei werden die meisten nicht mal gemeldet, da viele Polizisten die Anzeigen gar nicht erst aufnehmen oder die Opfer beziehungsweise Zeugen und Zeuginnen sich nicht trauen. Das sogenannte eve teasing ist leider an der Tagesordnung: Der verharmlosende Begriff „Eva Necken“ bezeichnet in Ländern wie Indien oder Pakistan die sexuelle Belästigung von Frauen im öffentlichen Raum wie an Bushaltestellen, in Bahnen, etc. Diese geht oft über die verbale Ebene hinaus und richtet sich gegen Frauen aller Alterstufen – auch minderjährigen Mädchen. Motorradfahren ist nicht nur ein Ausweg aus solchen bedrängten Situationen; es verbindet die indischen Frauen bei gemeinsamen Ausfahrten untereinander, es macht sie unabhängig.

Doch nicht nur die Sicherheit der Frau im öffentlichen Raum in Indien ist praktisch nicht gewährleistet. Auch von einer Gleichstellung der Geschlechter ist das heutige Indien noch recht entfernt. Laut dem Index für Geschlechterungleichheit 2018 besitzen nur 39% der Frauen in Indien einen Abschluss auf einer weiterführenden Schule, dagegen sind es 63,5 % der Männer.

Indien – ein Land mit vielen Gesichtern

So ein drastischer Befund mag den ein oder anderen vielleicht verwundern, denn Indien kennt man doch auch als aufstrebendes Land in Sachen IT und Technologie, in deren Branche zahlreiche Frauen arbeiten; manch ein Indientourist hat bei seiner Reise durch Großtstädte wie Delhi oder Mumbai zahlreiche Frauen in Berufen wie Taxifahrerinnen bis Wirtschaftlerinnen, Bänkerinnen und Barkeeperinnen gesehen.

Indien ist ein Land „multipler Realitäten“, sagt Urvashi Butalia – Verlegerin und Frauenförderin – der Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES; und weist darauf hin, dass ein Subkontinent mit 33 Quadratkilometern und 1,2 Milliarden Menschen viele Gesichter und gesellschaftliche Zustände hat.

Während in den Städten Gleichstellungsbewegungen bereits ihre Früchte tragen, sind auf dem Land, wo immerhin zwei Drittel der Bevölkerung leben, die patriarchalen Strukturen noch sehr stark ausgeprägt leben. Ob eine Frau ein selbstbestimmtes und freies Leben in Indien führen kann, hängt von Faktoren wie der Religions- und Kastenzugehörigkeit, der sozialen Schicht sowie dem Bildungsgrad und dem des sozialen Umfelds ab.

Gerade auf dem Land herrscht noch das traditionelle Familienmodell, bei dem die Frau ‘zuhause’ keinen Zugang zu Bildung hat. Heute noch werden 90% der Ehen in Indien arrangiert. Obwohl Mitgiften gesetzlich verboten sind, werden sie unter der Hand trotzdem von den Eltern verhandelt. Nicht selten sind sogenannte Mitgift-Morde, bei denen die Frauen aus reiner Profitgier bereits bald nach der Hochzeit umgebracht werden, um eine weitere Heirat zu ermöglichen. Weiblicher Nachwuchs ist ebenfalls weniger gern gesehen. Ein Gesetz verbietet mittlerweile Ärzten, das Geschlecht des Kindes vor der Geburt preiszugeben, um der Abtreibung von weiblichen Föten entgegenzuwirken. Trotzdem kommen auf 800 Frauen in Indien 1000 Männer. Diese Ungleichheit führt laut Urvashi Butalia wiederum zu einem Frustrationspotenzial bei Männern und einer höheren Bereitschaft zu sexuellen Übergriffen gegenüber Frauen.

Gesellschaftlicher Wandel und Frauenbewegung

Doch es passiert auch etwas: Seitdem 2012 die tödliche Gruppenvergewaltigung einer Studentin einen internationalen Aufschrei bewirkte, wurden auf juristischer Ebene zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Situation der Frauen grundsätzlich zu verbessern. Es gibt mittlerweile Gesetze gegen häusliche Gewalt, sexuelle Nötigung und auch das Heirats- und Erbrecht wurde zugunsten von Frauen modernisiert. Aber: Ein Gesetz von 2017, das nicht einvernehmlichen Sex in der Ehe mit Mädchen unter 18 Jahren (und eben nur mit diesen) als Vergewaltigung einstuft und dadurch strafbar macht, zeigt jedoch auch, dass von ‘Fortschritt’ zu sprechen, eindeutig eine Frage der Perspektive ist!

Das Gleiche gilt in Bezug auf die Beschäftigung von Frauen: Eine Frauenquote sorgt mittlerweile dafür, dass auf dörflich-kommunaler Ebene immerhin um die 33% der Stellen mit Frauen besetzt werden. Im städtischen Bereich können es teilweise sogar bis zu 50 % sein (Terre des Femmes). Sogar Regierungsprogramme zur Förderung von Frauen wurden gegründet.

Indien befindet sich in einem langwierigen Entwicklungsprozess, sagt die Frauenrechtlerin Urvashi Butalia, der auf allen Ebenen von Politik, Wirtschaft, Kultur, sozialem Miteinander und Religion stattfinden muss.

Die gesellschaftliche Diskussion wird bereits hitzig geführt: hier stehen Konservative Verfechter der arrangierten Ehe und des Patriarchats moderneren Bewegungen von Frauen aber auch Männern gegenüber, die sich ganz klar gegen die Unterdrückung der Frauen aussprechen. Die Bikerni aus Delhi sind nur ein Beispiel einer facettenreichen emanzipatorischen Bewegung. Sie erhalten unterschiedliche Reaktionen von hochgestreckten Daumen bis zu aggressiven Annäherungen während der Fahrt.

Vorsicht mit westlichen Vorurteilen

Zugleich ist aus der Perspektive des ‘Durchschnitt-Westlers’ auch Vorsicht mit vorschnellen Urteilen geboten. Denn nicht alle Strukturen des indischen Kasten- und Patriarchatssystems können als überholt oder unzeitgemäß abgestempelt werden. Das immer noch 90% der indischen Ehen arrangiert werden ist ein Beispiel. Denn das Modell der von der eigenen Familie arrangierten Partnerwahl hat auch bei international bewanderten, jungen Akademikern trotz allem einen gewissen Attraktivitätswert.

Indien hat viele Gesichter – zwischen guten und schlechten Traditionen zu differenzieren erscheint in puncto Genderdebatte als die große Herausforderung.