M94.5 Kulturkritik
Elektra
Nach “Die Räuber” bringt Ulrich Rasche ein weiteres Mal die großen Stahlkonstruktionen seines Monumentaltheaters auf die Bühne vom Residenztheater. Das ist immer noch beeindruckend – aber leider nichts Neues.
Eine großartige Erfolgsinszenierung sind sie, Die Räuber am Residenztheater. So wegweisend sogar, dass sie nicht nur seit ihrer Premiere im September 2016 quasi durchgehend ausverkauft sind, sondern auch eingeladen wurden zum Berliner Theatertreffen, dem wichtigsten Branchenfestival des deutschsprachigen Theaters (auch wenn sie dort aufgrund des wuchtigen Bühnenbildes gar nicht aufgeführt werden konnten). Man kann es Regisseur Ulrich Rasche also kaum verdenken, dass er an diesen Erfolg anknüpfen möchte – vielleicht auch anknüpfen muss. Immerhin hat seine Herangehensweise prächtig funktioniert und Schillers Räuber zu einem überwältigenden Spektakel gemacht. Die stilistischen Ähnlichkeiten zu seinem neuesten Werk, Hugo von Hofmannsthals Elektra, sind allerdings ein bisschen zu viel des Guten.
Die Räuber neu synchronisiert
Nein, hieraus soll keine Kritik zu Die Räuber werden, es geht um Elektra, versprochen. Aber als Zuschauer, der beide Inszenierungen gesehen hat, kommt man nicht umhin, Vergleiche zu ziehen. Gleich in den ersten Minuten, wenn die ersten Worte des (in von Hofmannsthals Originaltext übrigens nicht vorhandenen) Chors fallen, passiert das erste Irritationsmoment: Haben wir das nicht alles schon mal gehört? Präzise synchronisiertes Staccato, dieser ganz besondere Rasche-Sprechchor, der keinerlei Abweichung von seinem rhythmischen Sprachduktus erlaubt und in beeindruckender Gleichzeitigkeit vor sich hin zischelt. Gespenstisch ist es allemal, wenn zehn Stimmen simultan mit ihrem Schicksal hadern. Der Chor ist perfekt an die minimalistische Live-Musik angepasst und schmiegt sich gehorsam dem repetitiven Klangteppich an. Hut ab vor der Leistung der Schauspieler und Musiker, die es schaffen, als großes Ganzes zu atmen.
Nur stellt sich die Frage: wozu? Nur weil man es kann, bereits bewiesen hat, dass man es kann, muss man es dann gleich noch mal machen? In Die Räuber spricht der Chor für die Räuberbande; es geht um Gruppendynamiken, Determinismus, das Verschmelzen des Einzelnen mit der Gruppe. In Elektra hingegen existiert diese Gruppe nicht. Der Chor übernimmt Textzeilen einzelner Figuren, mal hier, mal da, wo es eben gut klingt. Immer wieder schwellen Sprechchor und Musik zu einer neuen Klimax an, es wird lauter und emotionaler denn je, kaum auszuhalten – dann plötzlich flacht es ab. Und das Spiel beginnt von vorn, schon auf dem Weg zur nächsten Klimax. Immer wieder, in unvermeidlichen Zyklen. Dieses Vorgehen stützt den Text allein in denjenigen Szenen, die sich um Elektras Wahnsinn drehen: das unheilvolle Gewisper aus dem Nichts, das sie plagt mit Rachegelüsten und immer psychotischer anmutendem Wahn. In allen anderen Szenen wirkt der Chor oft deplatziert, die ständig neuen Höhepunkte ermüdend.
Monumentale Schablone
So wie der Chor fühlt sich vieles an dieser Inszenierung dem Stoff übergestülpt an: die reduktive Spielweise, die die Schauspieler dazu zwingt, sich im immer gleichen Rhythmus zu bewegen und zu sprechen, und die stoffliches Vorwissen vom Publikum verlangt, um dem Geschehen folgen zu können; oder die überwältigende Mechanik der Bühnenkonstruktion, die sich nahezu lautlos und flüssig im Kreis dreht und neigt, sich aber zu den Schauspielern ähnlich verhält wie die Laufbänder in Die Räuber. Im Pressetext ist vom “leeren Zentrum” die Rede, um das die Figuren rotieren, die Ungerechtigkeit des Mordes an Agamemnon, durch die die Handlung erst ins Rollen gebracht wird. Gleichzeitig will der Text aber feministisch ausgelegt werden, als eine von Frauen getragene Geschichte, in der Männer keine größere Rolle spielen. Klar, sie sind entweder tot (Agamemnon), verbannt (Orest) oder völlig abwesend (Ägist) – aber jegliche Dialoge zwischen den Frauen drehen sich wortwörtlich um sie, würden ohne die Handlungen der Männer überhaupt nicht stattfinden.
All das befeuert nur den Eindruck, dass Elektra alles sein möchte: umwerfend, universell, monumental. So fühlt sie sich auch an. Am Ende, nach der allerletzten Chor-Musik-Klimax des Abends, wird der Zuschauer ausgespuckt wie in einem Delirium, erschöpft von den Sinneseindrücken und dem zwei Stunden anhaltenden Gefühl, dass alles ständig wichtig ist. Jedes einzelne Wort, jede Geste vermittelt Übermenschliches, Schicksalhaftes. Nur, wenn alles wichtig ist, kann schließlich nichts mehr wichtig sein.
Viel Lärm um Nichts
Rasches Elektra ist Kräfte zehrend, für alle Beteiligten: die Schauspieler (allen voran Katja Bürkle, die sich geifernd und sabbernd die Seele aus dem Leib spuckt) wie das Publikum. Sie ist atmosphärisch, sie ist technisch beeindruckend, sie erfordert ohne jeden Zweifel unsagbar harte Arbeit. Aber sie basiert auch auf einem denkbar simplen, kurzen Text: über einen einzigen Abend, an dem eine Frau sich entscheidet, die Mutter für den Mord am Vater umzubringen. Wenn die Inszenierung dieser Geschichte also nicht dient – darf man sie dann eindrucksvoll, oder muss man sie verkünstelt nennen?
“Elektra” feierte am 15. Februar 2019 Premiere im Residenztheater.