Martin Sonneborn im Interview
“Ein Konflikt zweier Länder ungleicher Stärke”
Seit dem vergangenen Wochenende ist der Konflikt um die Region Bergkarabach neu entflammt. Armenien und Aserbaidschan beanspruchen beide das Gebiet für sich. Im Interview bringt Martin Sonneborn Licht ins Dunkel des komplexen Konflikts.
Im Kaukasus gibt es nach einer mehr als 25 Jahre langen Waffenruhe neue Kämpfe um das Gebiet Bergkarabach, ein armenisches Gebiet mitten in Aserbaidschan, das als “Republik Arzach” seit vielen Jahren darum kämpft, als unabhängiger Staat anerkannt zu werden. Der Europaabgeordnete Martin Sonneborn von der Partei “DIE PARTEI” ist Mitglied im Ausschuss für parlamentarische Kooperation EU-Aserbaidschan und im Parlamentarischen Assoziationsausschuss EU-Georgien.
M94.5 erreichte Sonneborn zum “unlustigsten und bedrückendsten” Interview, dass der ehemalige Chefredakteur der Satire-Zeitschrift “Titanic” nach eigenen Angaben je gegeben hat:
Herr Sonneborn, wie schätzen Sie die derzeitige Lage in Bergkarabach ein, was passiert gerade in der Region?
Für mich sieht es momentan so aus, als ob Aserbaidschan, das einen Anspruch auf das Gebiet Bergkarabach erhebt, dieses friedliche kleine Land vor ein paar Tagen überfallen hat. Jetzt versucht Aserbaidschan, mit Rückendeckung der Türkei, die christlichen Armenier aus dem Land zu werfen.
Neben der Türkei scheint aber auch Russland in den Konflikt einzugreifen. Welche Risiken birgt das denn für die internationale Sicherheit und wie sollte die EU darauf reagieren?
Es ist nicht nur ein Problem der EU. Es gibt im Europaparlament mittlerweile Stimmen die fordern, dass die EU auf Erdoğan, den Irren vom Bosporus, reagiert. Das ist, glaube ich, mittlerweile der fünfte Kriegsschauplatz, an dem die Türkei die Lage verschlimmert. Was ich nicht verstehe ist, dass Erdoğan als NATO-Partner offensichtlich jetzt auch in Armenien mit seinen NATO-Flugzeugen armenische Flugzeuge abschießen darf. Er hat auch bereits in der Vergangenheit griechische Inseln mit Invasionen bedroht, wie auch Zypern bedroht. Trotzdem gibt es keinerlei Sanktionen gegen die Türkei. Das haben wir meiner Meinung nach Bundeskanzlerin Angela Merkel zu verdanken, die sowohl aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch aufgrund des Flüchtlingsdeals Erdoğan offensichtlich vollkommen freie Hand lässt.
Können sie einschätzen, wie der Konflikt das Leben der Menschen in Bergkarabach beeinflusst?
Es ist eine tödliche Gefahr. Ich habe mir Bergkarabach bisher zweimal angesehen, es ist eine kleine Vorzeigedemokratie, ein Land in dem die Menschen im Parlament wie bei uns Krawatte und weiße Hemden tragen. Es gibt ein kleines Parlament mit 33 Abgeordneten, von denen ein Viertel Professoren sind. Es ist eine hochgebildete, sympathische und kleine Demokratie in einem sonst autokratisch ausgerichteten Gebiet. Uns Deutsche sollte das doppelt betroffen machen: wir sind beispielsweise Pate der Verfassung von Bergkarabach, die von einem deutschen Verfassungsrechtler geschrieben worden ist und sich am Grundgesetz orientiert. Sie ist sogar besser als die deutsche Verfassung, da es den Parlamentsmitgliedern verboten ist bezahlte Nebentätigkeiten anzunehmen, sie dürfen sich nur in den Gebieten der Kunst und der Wissenschaft engagieren.
Ich bin in früheren Jahren viel verreist, aber das ist der friedlichste kleine Fleck, den ich gesehen habe. Aber ich war auch an der Front-Linie und habe erlebt, dass Aserbaidschan auf der anderen Seite mit einer gewaltigen Menge an Militär-Material steht. Und dass der Irre vom Bosporus, Erdoğan, gerade offensichtlich auch Dschihadisten aus Syrien einfliegen lässt, die für einen verbesserten Monatslohn auf die dort lebenden christlichen, demokratischen und friedlichen Menschen schießen lässt. Ich habe Bilder von Kindern nachts um vier Uhr in Luftschutzkellern gesehen. Ich finde es relativ schräg, dass die Bundesregierung sich nicht einmal aufrafft. Es gibt mit Aserbaidschan einen ganz klaren Aggressor, ein absolut korruptes und ölreiches Land. Der Diktator Älijew hat es von seinem Vater geerbt, die Familie ist dort schon länger an der Macht. Sie geben hunderte Millionen Euro Bestechungsgelder aus, um in aller Welt für einen guten Ruf Aserbaidschans zu sorgen. Es ist auch Geld nach Deutschland gegangen. Es gibt eine absolut korrupte CDU, darunter die Bundestagsabgeordnete Karin Strenz, die einst zur Wahlbeobachtung in Aserbaidschan gewesen ist und später erklärte, es seien demokratische Wahlen auf dem Niveau, wie wir sie in Deutschland haben. Dabei sind sie, wie die FAZ schrieb, grob gefälscht – man kauft sich ein Bild in der Welt, das ein bisschen geschönt ist. Ich glaube, wir Deutschen stehen dabei wirklich in der Pflicht, wir haben bereits Anfang des letzten Jahrhunderts beim Genozid der Türken an den Armeniern zugesehen. Genau dieses Schweigen gibt es auch jetzt erneut, wenn ein wild gewordener Turkstämmiger mit Erdoğans Rückendeckung friedliche Menschen im Kaukasus angreift.
Bergkarabach wäre gerne eine unabhängige Republik, wird aber derzeit von der internationalen Gemeinschaft noch nicht anerkannt.
Das Problem ist, dass es eine kleine christliche Enklave ist, ein Gebiet, das seit hunderten von Jahren von christlichen Armeniern bevölkert wird. Zu Stalins Zeiten sind dort willkürlich Grenzen gezogen worden. Stalin hat damals nach der Handlungsmaxime “divide et impera” (lat. “teile und herrsche”, Anm. d. Red.) das christliche Gebiet dem islamistischen Aserbaidschan zugeschoben: im Vertrauen darauf, dass es zu Sowjetzeiten unterhaltsame Auseinandersetzungen zwischen den Ländern gibt und dass es keine Koalitionen gegen Moskau geben kann. Das haben die Armenier in Bergkarabach eben heute auszubaden. Es gibt das Völkerrecht der Selbstbestimmung der Völker und das ist meiner Meinung nach höher zu setzen als die Grenzziehung von Stalin in den 1920er Jahren.
Der Konflikt in der Region schwelt schon relativ lange. Die im Jahr 1994 beschlossene Waffenruhe ist brüchig. Was unternimmt die Europäische Union um ein erneutes Aufflammen des Konflikts zu verhindern bzw. einzudämmen?
Die EU macht gar nichts. Es gibt ein paar wenige Parlamentarier, die hin und wieder nach Bergkarabach fahren. Ich war zweimal vor Ort, um mir das anzusehen. Der Konflikt wurde nicht als äußerst bedrohlich eingeschätzt, wenn nicht Erdoğan momentan durchdrehen würde und pantürkische sowie panislamistische Träume in die Tat umsetzen wollte – dann wüssten wir von diesem Konflikt auch nichts, er hätte sich nicht weiterentwickelt. Dadurch, dass Erdoğan praktisch von Merkel Rückendeckung erhält, oder zumindest keine Kritik, keine wirtschaftlichen oder sonstigen Sanktionen aus Deutschland oder der EU zu befürchten hat, eskaliert die Situation.
Denken Sie, dass der momentane Konflikt schnell beigelegt werden könnte oder dass sich dieser mit heftigen Gefechten über einen längeren Zeitraum ziehen wird?
Das kann ich nicht sagen. Bergkarabach ist keine Nation, die es militärisch mit einem hochgerüsteten und mit deutschen Waffen versehenen Gegner wie Aserbaidschan aufnehmen kann. Armenien kann das vermutlich auch nur durchstehen, wenn Russland eingreift und Aserbaidschan zur Ordnung ruft, aber danach sieht es momentan nicht aus. Putin wird, so denke ich, eher darauf spekulieren, dass die Unordnung an der Grenze die Stellung Russlands in Armenien weiter stärkt. Dort hat es eine unblutige, demokratische Revolution gegeben. Der armenische Premierminister Paschinjan, den ich auch vorletztes Jahr getroffen habe, ist über Massendemonstrationen gegen die Korruption in Armenien an die Macht gekommen. Ich glaube, es gab seitdem eine leichte Abwendung gegenüber Russland, das wird im Kreml natürlich nicht gerne gesehen.