Cyberpunk 2077 Release
Ein Desaster, das niemand beim Namen nennt
Cyberpunk 2077 launcht mit einem guten Jahr Verspätung und erweckt Erwartungen, die kein Videospiel erfüllen kann. Kritiker:innen und Gamer sind sich noch vor Release einig: Ein Meisterwerk. Unser Autor fragt sich: Wieso?
Hype ist auch im Videospielkosmos nichts Fremdes: Manchmal Call of Duty, manchmal Assasin’s Creed. Doch das Wort ist nicht allumfassend genug für den neuesten Open-World-RPG-Titel von CD Projekt Red. Gamer schicken Todesdrohungen an Journalist:innen, die das Spiel und seine Entstehungsumstände kritisieren, attackieren LGBTQI*-Vertreter:innen und erklären das Projekt zum wichtigsten Stück Kunst der Moderne.
In der deutschen Nacht vom neunten auf zehnten Dezember war es soweit: Fünf Jahre nach „The Witcher 3“ und acht Jahre nach der ersten Ankündigung bringt das Studio ein Spiel für den PC (und lachhaft schlecht auf PS4 und XBOX One) heraus, das vor Bugs, Glitches und – am schlimmsten – Ideenlosigkeit strotzt. Stören daran tun sich anscheinend die Wenigsten.
Twitch-Streamer, die den Zugang vorab erhalten haben, legen extra lange Sessions ein, um die Hauptstory, die zirka 20 Stunden umfasst, das erste Mal durchzuspielen. Dass das Spiel in den meisten Fällen nach dem Kampftutorial abstürzt und Spielstände zurücksetzt, sorgt höchstens für Erheiterung im Chat. Frust setzt auch nicht ein, als das Spiel zum zweiten und dritten mal auf Computern einfriert, die so viel kosten wie ein Kleinwagen und mehr Rechenleistung mitbringen als alle Systeme, die man Casual Gamern zumuten sollte.
Auf der letzten Konsolengeneration (PS5- und XBOX One X-Versionen sind noch nicht erhältlich) nimmt das Ganze die absurdesten Züge an: Texturen laden nicht, in Kämpfen flackern gerade noch zehn Bilder die Sekunde auf und Quests sind unspielbar, weil man sie nicht abschließen kann oder gar nicht erst auslösen. All das kann man zwar mit viel Arbeit über Patches reparieren und so das Spielerlebnis deutlich näher an das angleichen, was die Vision von CD Projekt Reds war. Trotzdem darf man von einem Spiel, das offiziell erschienen ist und 60 Euro in der Basis Edition kostet, erwarten, dass es im wahrsten Sinne des Wortes spielbar ist.
Woher kam der Hype?
Der Druck auf die Entwickler:innen nach mehrmaligen Release-Verspätungen war vermeintlich riesig. Doch das Marketing des Studios hat sich über all die Jahre selbst keinen Gefallen getan, wie sich jetzt zeigt. Das Schüren von unrealistischen Erwartungen über polierte E3-Trailer und Kooperationen mit namhaften Künstlern sorgt in einer so fragilen Community wie Gamern nun mal zu diesem Hype. Das entschuldigt selbstverständlich keine Morddrohungen an das Studio, wie geschehen als es die Veröffentlichung mal wieder verschoben hat.
Aber wie ist es denn jetzt, das Spiel? Wenn man die Bugs und Glitches ignoriert, sich den neuen PC für zehntausend Euro auf den Tisch gestellt und den 64 Gigabyte großen Day-One-Patch heruntergeladen hat?
Story versus Gameplay
Naja.
Weder die Idee, ein Rollenspiel in eine wahre, offene Welt zu portieren noch eine Geschichte über eine düstere Zukunft für die Menschheit und alle die mit ihr leben müssen, sind neu. Muss sie ja auch nicht sein, so lange alles als Einheit funktioniert. Und das gelingt nur teilweise.
Häufige und lange Cutscenes mit durchschnittlich animierten Charaktermodellen unterbrechen den sonst recht flüssigen Rythmus der Welt mit wenigen und schnellen Ladezeiten. In diesen Cutscenes oder in Spielmomenten, die sich anfühlen wie Cutscenes, weil man im Auto sitzt und maximal umherschauen kann, trifft man die entscheidenden Dialogoptionen, die zu einem der zahlreichen Enden führen.
Die Story endet je nach Entscheidungen auf sehr differenzierten und unterschiedlichen Noten. Denn viele Charaktere zeigen wirklich Tiefe und geben das Gefühl, sie wüssten, was gerade in einem vorgeht. Und so lässt das Spiel viel Platz für Wiederspielwert, um wirklich alle Geschichten, auch in den Nebenquests, kennenzulernen, die einen interessieren.
Nichts davon ist revolutionär, aber alles ist solide. Das gilt ebenso für alle Elemente, die so abgekapselt von der Story wirken: Das Waffengameplay, die NPC-Interaktionen, die Stadt. Das offene Erkunden der Stadt versucht zwar Story und Gameplay in Einklang zu bringen, aber dafür ist die Idee, zufällige Ereignisse auf der Straße echt wirken zu lassen, nicht mehr frisch genug. Die Story findet im gefühlten Sinne nicht in der Stadt statt, sondern die Stadt existiert nur innerhalb der Story.
Fazit
Das heißt nicht, dass Cyberpunk 2077 einen in echte emotionale, schmerzhafte, schockierende und manchmal auch absurd witzige Momente mitnimmt. Aber es ist nicht das, was die Mehrheit daraus gemacht hat: Sowohl CD Projekt Red mit seinem Marketing, Gamer mit ihrer toxischen Fankultur, als auch Journalist:innen die trotz schwerwiegendster Spielabbrüche Bestnoten vergeben haben. Cyberpunk ist kein Meisterwerk. Dafür sind die Story, das Gameplay und die individuellen Entscheidungen alleinstehend nicht überwältigend genug und zusammen nicht gut genug auf einander abgestimmt.
Das Spiel wird alle begeistern, die Ideen für unsere Zukunft und unser Zusammenleben in Videospielen finden, die im Medium zuvor noch nicht in dieser graphischen Bombastik erzählt wurden – angenommen die RTX 3090 steckt.
Das Spiel wird alle enttäuschen, die auf das nächste Metal Gear Solid 2 gehofft haben.
Eine Empfehlung kann Cyberpunk 2077 erst sein, wenn (in vielleicht zwei Monaten) ein Großteil des Spiels gepatcht ist. Zum aktuellen Zeitpunkt ist Cyberpunk 2077 nur Zeit und kein Geld wert.