M94.5 Kulturkritik

Dublin Fringe Festival

/ / Bild: © Martha Knight - Dublin Fringe Festival 2019

Wenn Deutschland das Land der Dichter und Denker ist, ist Irland zweifelsfrei das Land der Freunde ausgeprägter Bühnenkultur. Denn die Heimat großer Dramatiker wie James Joyce, Oscar Wilde und William Butler Yeats nennt beinahe genauso viele Theaterbühnen wie Pubs ihr Eigen. In großen Städten wirbt gefühlt an jeder Ecke eine charmante kleine Bühne um die Gunst des auffallend breit aufgestellten Publikums. Hier herrschen nicht nur ähnliche Leidenschaft, sondern auch ähnlich ungezwungene Anstandsregeln für den Theater- wie für den Pubbesuch: In jeder noch so feinen Spielstätte sind alkoholische Getränke im Zuschauerraum explizit erlaubt. Perfekt also für den entspannten Feierabend – oder den kulturhungrigen Touristen, der trotzdem nicht auf sein Guinness verzichten möchte.

Besonders zu empfehlen ist dabei ein Trip im Herbst, der in Dublin traditionellerweise dem Theater gewidmet ist: Im September und Oktober nehmen mehrere Theaterfestivals die irische Hauptstadt für sich in Anspruch und bringen heimische wie internationale Performer auf die Bühne. Zum 25. Jubiläum vom Dublin Fringe Festival, das sich bewusst abseits vom Mainstream in die skurrileren Ecken der Abendunterhaltung traut, haben wir einmal vom bunten Programm (und ein paar Getränken) gekostet.

Afloat (Theatre)

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Weltuntergangsstimmung zu hipper Musik im Trailer von Afloat, Dublin Fringe 2019.

Die Umweltkatastrophe hat Dublin erreicht, die Stadt wird von einer Riesenwelle überflutet. Die scheinbar einzigen Überlebenden: zwei Millennials (eine Zynikerin, eine Möchtegern-Aktivistin), eingesperrt im obersten Stockwerk eines Hochhauses, wo die Isolation und das ständige Aneinander-Rummeckern sie allmählich in den Wahnsinn treiben. Afloat strotzt nur so vor Selbstironie und trockenem Humor und gewinnt sein Publikum vor allem durch hochaktuelle popkulturelle Bezüge und Dublin-spezifische Insiderwitzchen. Dadurch bietet das perfekt besetzte, wenn auch überzogen gezeichnete Duo einen unterhaltsamen Abend. Das Stück kann allerdings kaum etwas Originelles zum Dauerthema Klimaschutz beitragen. Frustrierend ist vor allem ein ungelenker Twist zum Ende hin, der den typischen, appellierenden Zeigefinger auf einmal umkehrt in ein fragwürdiges Fazit: In Wirklichkeit sind allein die großen Konzerne Schuld am Klimawandel, also kann der individuelle Konsument eh nichts ausrichten – und soll ruhig weiter sein Steak und Billigflüge auf die Malediven genießen. So hinterlässt Afloat, nach einer Stunde angenehm vor sich hin plätschernder Komödie, vornehmlich ein unangenehmes Gefühl der Machtlosigkeit.

Circus (Dance)

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Musikalischer Trailer zur Tanzperformance Circus, Dublin Fringe 2019.

Circus möchte die Frage danach stellen, welche Körper auf der Bühne gesehen werden sollen und gesehen werden dürfen. Choreographin Tara Brandel versucht dabei, zwei große Themenkomplexe miteinander zu verbinden: die Geschlechterdebatte (repräsentiert durch einen alternden Frauenkörper) und die Flüchtlingsthematik (repräsentiert durch einen schwarzen Männerkörper). Körper also, die in der medialen Öffentlichkeit oft nur in Ausnahmefällen oder als Randfiguren zu sehen sind. Während Brandel selbst live auf der Bühne tanzt, als Poledancer oder verkleidet als überpotenter Mann, wird die Performance ihres Bühnenpartners Nicholas Nwosu, Flüchtling aus Nigeria, immer wieder in Videosequenzen eingeblendet. Das Tanzduo, das daraus entstehen soll, mag allerdings nicht so recht gelingen, vielmehr geschehen beide Performances isoliert voneinander und die Verbindung der zwei Personen, wie auch der zwei Themen, bleibt aus. Das ist schade, denn die wenigen Dialogfetzen Nwosus, über seine Fluchterfahrungen und die ungebrochene Leidenschaft zum Tanz, lassen eine spannende Persönlichkeit vermuten. Möglicherweise hätte Circus eine größere emotionale Tragweite entwickelt, hätte es sich ausschließlich auf diese persönliche Geschichte beschränkt.

Collapsible (Theatre)

Haltlos und isoliert: Die Protagonistin aus Collapsible, Dublin Fringe 2019.

Autorin Margaret Perry beweist, dass ein gut geschriebenes Drehbuch auch völlig ohne aufwändige Inszenierung überzeugen kann. Denn Collapsible ist im Grunde nichts weiter als ein Monolog: getragen von einer einzigen Schauspielerin, die verlassen und ganz für sich allein in einem bewusst reduzierten Bühnenbild sitzt und sich Stück für Stück in Richtung Nervenzusammenbruch redet. Breffni Holahan spielt dabei allerdings nicht nur Protagonistin Essie, die Freundin, Job und irgendwann sich selbst verloren hat, sondern im Rückblick auf entscheidende Dialoge auch alle anderen vorkommenden Figuren – großartig verkörpert durch subtile Veränderungen in ihrer Körperhaltung oder Stimmlage, die auch bei schnellen Wortwechseln klarmachen, mit wem Essie da spricht und worüber. In Collapsible steht klar das Wort im Mittelpunkt: Die Sprache klingt authentisch, auch in poetischeren Momenten der Selbstreflexion, ist selbstironisch und dabei dennoch seltsam melancholisch. Auch ohne es jemals direkt anzusprechen, wird klar, dass Collapsible sich um Depression dreht; um Erschöpfung, Identitätssuche und Isolation im modernen Alltag. Bis auf das (leider überraschend plumpe) Ende wird das Thema emotional prägnant umgesetzt, dank Fokus auf das Wesentliche.

Cuckoo (Live Art / Theatre)

Jaha Koo und seine Co-Performer in Cuckoo, Dublin Fringe 2019: drei elektrische Reiskocher.

Eine Performance über die jüngste Geschichte von Südkorea, erzählt mithilfe von gehackten Reiskochern – wahrscheinlich die ungewöhnlichste Stückbeschreibung des ganzen Festivals, und damit aber auch eines der spannendsten Stücke des Jahres. Cuckoo hat sich nicht wenig vorgenommen: die letzten 20 Jahre südkoreanischer Kulturgeschichte erzählen, den kulturspezifischen Perfektionismus und Leistungsdruck einem westlichen Publikum erklären, auf Isolation und Suizid eingehen – und das alles im Rahmen einer unterhaltsamen One-Man-Show. Mit Reiskochern. Es ist Jaha Koos origineller Herangehensweise zu verdanken, dass dieser Abend nicht in der Masse seiner deprimierenden Themen untergeht, sondern schlichtweg großartig funktioniert. Mit poppiger Musik, performt von einem depressiven Reiskocher mit bunt blinkenden LED-Lichtern, eingespielten Videosequenzen und selbstironischen Dialogen eröffnet Koo einen unheimlich unterhaltsamen und dennoch emotional berührenden Blick auf das moderne Südkorea und seine persönlichen Erfahrungen mit den Problemen seiner zurückgelassenen Heimat. Kein Wunder also, dass er Standing Ovations erntet. Und bezeichnend, dass er dennoch den abschließenden Applaus unterbricht, um sich für einen technischen Hänger zu entschuldigen, der kaum bemerkbar war: Schließlich seien die Reiskocher nicht fürs Schauspielen gemacht, da passiere es schon mal, dass sie dem Druck nicht standhalten können.

Gym Swim Party (Dance / Theatre)

Feuchtfröhliches Setting für ganz viel Drama: Gym Swim Party, Dublin Fringe 2019.

Drei Regisseure, drei Teilabschnitte, ein Stück: Gym Swim Party ist poppig aufgezogen, laut, bunt, crazy – und verliert diesen Drive dann irgendwann im unvereinbaren Mischmasch zu vieler Subkomponenten. Das Stück spielt nacheinander im Fitnessstudio, im Schwimmbad und auf einer Party, drei Sequenzen, die etwas Episches, fast schon Mythisches vereint, das an antike Sagen erinnert. Immerhin geht es um den Krieg zweier Armeen (in diesem Fall zweier konkurrierender Fitnessstudioketten, die Dublin an sich reißen wollen), um Liebe zwischen verfeindeten Lagern, um seltsam kryptische Zukunftsvisionen von einer Figur namens Cass (Kassandra, anyone?). Dabei treffen bissige Ellenbogenkultur und Witze über die Leistungsgesellschaft auf dramatische Betrugsszenen und plötzliche Mordabsichten, in einem Mix aus Tanz, Aerobic und Sprechtheater. Das macht Gym Swim Party ohne jeden Zweifel unterhaltsam, nicht zuletzt getragen von einem bombastischen Bühnenbild und innovativen visuellen Tricks, aber am Ende dennoch schwächer als die Summe seiner Teile, da die unterschiedlichen Stile des Regie-Teams nicht so ganz miteinander warm werden wollen. So bleibt auch nach anderthalb Stunden vieles unklar; aber schön anzuschauen ist’s zweifellos.

The Justice Syndicate (Interactive / Theatre)

Zwölf Geschworene entscheiden über Recht und Unrecht in The Justice Syndicate, Dublin Fringe 2019.

The Justice Syndicate ist ein Stück, das sich nur schwer als ein solches beschreiben lässt, da es den gewohnten Rahmen einer Theaterperformance direkt in der ersten Sekunde sprengt. Statt sich im sicheren Schatten des Zuschauerraums niederzulassen, wird das zwölfköpfige Publikum in einen Verhandlungssaal eines Gerichtsgebäudes geleitet und dort direkt im Zentrum an einem langen Tisch platziert: So sitzen wir einander gegenüber, jeder mit Tablet und Notizbuch vor sich, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können. Denn in The Justice Syndicate sind wir nicht Publikum, sondern Geschworene und damit die wahren Performer dieses interaktiven Stücks, in dem wir uns, komme was wolle, einstimmig einigen müssen. Der fiktive Fall, der in streng bemessenen Diskussionsintervallen von uns verhandelt wird, betrifft einen erfolgreichen Krebsexperten und Kinderchirurgen, der die Mutter einer seiner Patienten sexuell belästigt haben soll. Es steht Aussage gegen Aussage, die dürftige Beweislage wird uns nach und nach per Tablet präsentiert, Zeugenaussagen per Video, GPS-Daten, Browser-Verläufe. Im Kern geht es dabei nicht darum, die Wahrheit herauszufinden, sondern ein moralisches Urteil zu fällen: Wenn ein derartiges Machtgefälle zwischen angeblichem Täter und Opfer besteht, wenn einem Richter #MeToo im Nacken sitzt, wenn aber konkrete Beweise fehlen – welches Risiko nimmt man dann am ehesten in Kauf? Einen Unschuldigen verurteilen oder einen Schuldigen laufen lassen? Und welches Signal sendet das nach außen? The Justice Syndicate bricht dieses überdimensionale, verzwickte Dilemma unheimlich eindrücklich auf zwei Stunden intensive Diskussion herunter und regt jeden Einzelnen dazu an, die eigenen Voreingenommenheiten zu hinterfragen. Ein ganz besonderes Stück modernen Theaters.

Vespertilio (Theatre)

Gemütlich auf dem Teppich räkeln mit den Protagonisten aus Vespertilio, Dublin Fringe 2019.

Ein dunkler, enger Raum mit hohen Decken und dem kalten Kegel einer Taschenlampe, die nach einem einsamen Überlebenden sucht: Ein ungewöhnliches Setting ist das allemal, in dem Alan sich um eine vom Aussterben bedrohte Fledermaus (lateinisch vespertilio) kümmert und dabei unverhofft auf den zwanzig Jahre jüngeren Josh trifft. Vespertilio ist ein intimes Stück in intimem Rahmen, nach Verlassen der anfänglichen Höhlenoptik gekleidet in wohlig warme Perserteppiche und charmante Dialoge. Von einer irgendwie niedlichen Romanze entwickelt es sich jedoch irgendwann in ein nicht mehr nachvollziehbares Lügengeflecht, das den Figuren jegliche Sympathie entzieht und dem Zuschauer emotionale Einsicht verwehrt (und das, nachdem er die Charaktere bereits über eine Dreiviertelstunde hinweg lieben gelernt hat). Dabei spielt die Fledermaus eine weniger große Rolle als Alans Unwissen über Memes, Harry-Potter-Anspielungen und Jugendkultur. Eine seltsame Mischung aus Beziehungsdrama und Mystery, die ihre Figuren in mehr Geheimnisse hüllt, als ihr möglicherweise guttut.

Das 25. Fringe Festival fand vom 07. bis 22. September 2019 in Dublin statt.