DOK.fest 2022
Dokus überall
Nach zwei Online-Ausgaben kehrt das DOK.fest München endlich wieder auf die Leinwände der Stadt zurück! Aber auch zu Hause ist immer noch einiges geboten, denn das Festival findet 2022 erstmals in einer dualen Edition statt.
124 Dokumentarfilme aus 55 Ländern erwarten die Zuschauer:innen dieses Jahr beim DOK.fest. Dabei sind aktuelle Themen wie der Ukraine-Krieg genauso präsent, wie etwa Portraits über starke Frauen oder Filme über das Filmemachen selbst. Diese Themenvielfalt könnt ihr dieses Jahr sowohl im Kino als auch gemütlich auf der Couch genießen. Damit die Auswahl nicht ganz so schwerfällt, haben wir uns schon mal durchs Programm geschaut und stellen euch einige der Filme vor.
Nawalny (USA)
Schon vor Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine war Alexei Nawalny Putins berühmtester Kritiker. Der Film Nawalny eröffnet das diesjährige Dok.fest München und begleitet den Kreml-Kritiker vor allem in der Zeit nach dem Giftanschlag auf ihn. Sehr nah am Geschehen begleiten wir den Kremlkritiker, sein Team und seine Familie dabei, wie sie auf eigene Faust herausfinden, wer hinter dem Mordversuch an ihm steckt. Der Film gleicht einer Charakterisierung Nawalnys und zeigt auch schon Ausschnitte aus Reden von 2017.
Besonders nah sind wir aber beim zweiten Anschlag dabei. Wir sehen, wie Nawalny aus dem Flugzeug geladen wird, wie seine Frau Julija im russischen Krankenhaus versucht zu ihrem Mann zu kommen und wie er anschließend in Deutschland wieder zu voller Gesundheit findet. Während dieser gesamten Zeit zeigt die Dokumentation einen lebensfrohen Mann mit einer Familie, die ihn uneingeschränkt unterstützt. Auch seine Tochter Daria kommt zu Wort: „Starting from 13 years old, I would think about: What would I do, if my dad was killed? There was a point, one year ago, where my dad was almost not there for my Highschool graduation. He was in jail once again for doing the right thing.“ Trotz hoher Aktualität verliert die Dokumentation allerdings kein Wort über den Ukrainekrieg. Obwohl der Film dieses wichtige Thema nicht anspricht, wird aber deutlich wie problematisch Putin sein Land führt. lb
Nawalny läuft in der Reihe DOK.international.
Daughters (Schweden)
Die Familie sitzt gemeinsam am Küchentisch, die kleine Sofia im Schoß ihrer Großmutter, als die beiden plötzlich zu weinen beginnen. Unruhe bricht aus. “Was ist denn passiert?” Bis Sofia leise wiederholt, weswegen sie sich Schutz suchend gegen ihre Oma drückt: “Meine Kinder werden keine Oma haben.” Denn erst vor einem Jahr hat die Mutter von Sofia und ihren beiden Schwestern sich das Leben genommen.
So emotional, wie der Film beginnt, gestalten sich auch die restlichen neunzig Minuten. Denn Regisseurin Jenifer Malmqvist begleitet ihre drei Protagonist:innen über zehn Jahre hinweg dabei, wie sie aufwachsen, ihren Verlust verarbeiten und zu Frauen werden. Im Handheld-Modus, so als sei sie ein Vertrauter der Familie, fängt die Kamera zahlreiche intime Momente ein und zeichnet ein rührendes Bild von Trauer und Geschwisterliebe. Dabei folgt der Film keiner Chronologie, sondern verknüpft assoziativ Momente aus den zehn Jahren miteinander – etwa wenn die noch-nicht-ganz-pubertäre Hedvig ihren Kakao umrührt und sie im nächsten Schnitt, nun erwachsen, einen Schluck von ihrem Kaffee nimmt. Dazwischen fokussiert Malmqvist immer wieder die Natur, die die Schwestern umgibt. Diese ist über all die Jahre hinweg ein verlässlicher Trost, denn wie auch ihre Oma sagt, “es lebt alles weiter”.
Daughters zeigt nicht mit dem Finger auf eine Mutter, die ihre Kinder verlassen hat, sondern erkennt den familiären Zusammenhalt an, den es erfordert, um diesen Verlust zu überstehen. Schmerzlich und beeindruckend zugleich, wie auch die drei Schwestern selbst. nc
Daughters läuft in der Reihe DOK.panorama.
Ayena (Indien)
Delhi, Indien – Auf den ersten Blick scheint, das Café „Sheroes“ in dem Ritu kellnert nicht weiter außergewöhnlich zu sein. Schnell aber fallen einem die bunten Frauenportraits an den Wänden und vor allem die Kellnerinnen wie Ritu auf. In ihrem Gesicht sind Spuren und Narben von einem Säureangriff durch ihren Cousin zu sehen. Solche Rache-Angriffe auf Frauen sind nicht selten in Indien. Auch Ritus Freundin Faraha teilt dieses Schicksal. Beide sind Teil einer Gemeinschaft für Überlebende von Säureangriffen und finden eigene Wege, um ihr Leben zu navigieren.
In 70 Minuten schafft es der Regisseur Siddhant Sarin einen authentischen Einblick in die Welt von Ritu und Faraha zu geben. Das gelingt ihm zum einen durch die Kamera: Mit statischen Aufnahmen, gepaart mit gelegentlichen handgeführten Einstellungen, sind wir den Protagonistinnen nah, aber nicht zu nah – klassisch für den Dokumentarfilm. An vielen Stellen reißt der Film wichtige Diskurse auf, lässt sie jedoch unkommentiert. Ein tieferer Hintergrund über das Rechtssystem oder die politische Situation wird kaum gegeben. Der Fokus liegt vielmehr auf dem alltäglichen Leben der Frauen. Der Griff in die Wirklichkeit gelingt dem Film: Dialoge über ihre traumatischen Erlebnisse werden nicht erzwungen, sondern kommen mit der Zeit natürlich auf. Statt auf Mitleid setzt der Film auf Mitgefühl, Würde und Hoffnung. Er zeigt, wie die Protagonistinnen trotz des traumatischen Säureangriff, die Lebensfreude nicht verlieren, sich schön machen und vor allem eines tun – weiterleben. sj
Ayena läuft in der Reihe DOK.horizonte.
Jane by Charlotte (Frankreich)
In ihrem dokumentarischen Regiedebüt Jane by Charlotte zeichnet Charlotte Gainsbourg ein sensibles Portrait ihrer Mutter, der Sängerin und Schauspielerin Jane Birkin. Aus der Sicht einer erwachsenen Frau, die nun selbst Mutter ist, nähert sie sich auf eine vorsichtige, zärtliche und verletzliche Weise an ihre Mutter an. In ihren Gesprächen teilen sie vor allem gemeinsame Erinnerungen an das frühere Familienleben. Diese Dialoge wirken ungestellt und geprägt von einer Spontaneität, manchmal fast poetisch. Die erzählten Erinnerungen werden zwar nicht eingeordnet, dennoch verliert der Film aber keineswegs an Schlüssigkeit. Vielmehr spiegelt dies die Intimität, Verbundenheit und gemeinsame Vergangenheit von Mutter und Tochter wider, in die die Zuschauer:innen direkt einbezogen werden.
Die Gestaltung des Films schließt sich dem authentischen Charakter der Dialoge an – mal aus der Perspektive von Charlotte Gainsbourg gedreht, mal von außen draufblickend. Auch die bewusst inszenierten Szenen wirken durch die sehr privaten Einblicke in das Leben von Mutter und Tochter und ihre vertrauensvolle Zuneigung sehr authentisch. Untermalt wird das Ganze teils durch klassische Stücke wie von Bach, aber auch eigens verfasste Lieder, die eine noch stärkere persönliche Note verleihen. In den letzten Sätzen aus dem Off drückt Charlotte Gainsbourg schließlich ihre tiefe Liebe zu ihrer Mutter aus. vz
Jane by Charlotte läuft in der Reihe Best of Fests.
You Are The Days To Come (Schweden)
1989 schlagen Sicherheitskräfte in China die Demokratiebewegung brutal nieder. Bekannt wird dieses Ereignis später als das Tiananmen-Massaker. Doch der erste Schuss am Platz des Himmlischen Friedens ging gar nicht vom Militär aus, sondern von einer jungen Künstlerin. Bei der China/Avantgarde-Ausstellung schoss sie 2 Monate vor dem Massaker bei einer Performance auf ihr eigenes Kunstwerk. Rebellische Künstler:innen wie sie stehen im Mittelpunkt von You Are The Days To Come. Im China der 80er kämpften sie für künstlerische Freiheit und Demokratie. Sechs von ihnen werden in der Doku porträtiert, etwa der sogenannte Vater des chinesischen Rock n‘ Roll oder Mitglieder der Avantgarde-Gruppe The Stars.
Dabei fehlt der Doku allerdings ganz klar die Struktur. Stattdessen werden die verschiedenen Personen einer nach dem anderen abgearbeitet, ohne dass ein echter Handlungs- bzw. Spannungsbogen entsteht. Interessant ist der Film trotzdem, was maßgeblich an dem verwendeten Archivmaterial und den Interviews mit den Porträtierten liegt. Aufnahmen von Konzerten, Protesten und Ausstellung zeigen wundervoll die Relevanz und Kraft der Kunst. Auch wenn die filmische Umsetzung nicht komplett überzeugt, ist der Film doch äußerst wichtig. Denn er spricht ein Thema an, über welches die chinesische Bevölkerung bis heute schweigt. lm
You Are The Days To Come läuft in der Reihe DOK.panorama.
Stimmen vom Feuer (Deutschland, Tschechische Republik)
Ein Lagerfeuer lodert im Dunkeln. Der Schein der Flammen erhellt die Gesichter von Grizelda und Sandra. Die beiden Frauen haben eigentlich wenig gemeinsam, kommen aus unterschiedlichen Ecken der Welt – Grizelda aus Südafrika, Sandra aus Deutschland. Aber sie beide sind Überlebende von Zwangsprostitution. Ihre Geschichten nehmen eine zentrale Rolle im Dokumentarfilm „Stimmen vom Feuer“ von Helen Simon ein. Die Regisseurin ist durch die Welt gereist und hat mit unzähligen Überlebenden von modernem Menschenhandel gesprochen.
Über eine Million Menschen, vor allem Frauen und Mädchen, werden jährlich in diese zeitgenössische Form der Sklaverei getrieben. Aus dem Off lässt Helen Simon Frauen aus der ganzen Welt zu Wort kommen und von ihrem Kampf für Gerechtigkeit erzählen. Die Stimmen überlagern sich, fließen ineinander und ergeben ein nahezu unerträgliches Bild von Ausbeutung und Gewalt. Simon hat aber zeitweise Probleme eine passende Bildsprache zu entwickeln. Manche Bilder wirken sehr generisch und wenig aussagekräftig. Dadurch fällt es den Zuschauenden schwer sich zu orientieren, da unklar ist an welchem Ort und bei welcher Person sich der Film gerade befindet. Die Erzählungen der Frauen und die Nähe, die sie zu den Zuschauenden zulassen, machen „Stimmen vom Feuer“ aber letztendlich doch zu einem einprägsamen Film. jm
Stimmen vom Feuer läuft in der Reihe DOK.panorama.
Sedimentos (Spanien)
Sechs transsexuelle Frauen mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten und Hintergründen begeben sich zusammen auf eine Reise in die kastilische Provinz, um den Geburtstag einer von ihnen in ihrer Heimat zu feiern. Auf der Reise lernen sie sich besser kennen, diskutieren, haben Konflikte, feiern zusammen. Sie erzählen sich ihre Lebensgeschichten, sprechen über geschlechtsangleichende Operationen oder spielen “Never have I ever”.
Regisseur Adriàn Silvestre zeigt sehr schön, wie sechs individuelle Menschen ihren Weg im Leben suchen und teilweise schon gefunden haben, jenseits von festgefahren Geschlechterrollen. Er begleitet die Protagonistinnen dabei auf respektvolle Weise, beobachtet die Gruppendynamik ohne aufdringlich zu wirken. So entstehen intime Einblicke in das Leben der Frauen, ohne jedoch Grenzen zu überschreiten. jr
Sedimentos läuft in der Reihe DOK.guest Spanien.
Escape to the Silver Globe
Zu Beginn verharrt die Kamera minutenlang auf dem Gesicht des polnischen Regisseurs Andrzej Żuławski. Denn in dem Dokumentarfilm Escape to the Silver Globe steht meistens nicht der Film, sondern die Personen hinter der Kamera im Vordergrund. So begleiten die Zuschauer:innen über knapp 90 Minuten die Entstehungsgeschichte des Sci-Fi-Films On the Silver Globe. Der sollte eigentlich das osteuropäische Pendant zu Star Wars darstellen und sogar noch vor den Sternenkrieger von George Lucas auf den Kinoleinwände zu sehen sein. Die Doku geht der Frage nach, wieso es ganze 10 Jahre gedauert hat, bis der Film zu sehen war.
Über weite Teile geht es jedoch gar nicht um die Produktion von On the Silver Globe, sondern allein um die Person des Regisseurs. So bekommen die Zuschauer:innen in den ersten 30 Minuten der Doku ausschließlich Einblicke in das berufliche sowie private Leben von Żuławski. Gerade deshalb kommt leider immer wieder das Gefühl auf, dass Escape to the Silver Globe der Fokus fehlt: Mal geht es um die polnische Filmindustrie generell und nur ab und zu um die Filmproduktion. Dadurch wissen die Zuschauer:innen durch die zahlreichen Interviews am Ende vor allem eines: Mit was für einer Besessenheit Żuławski am Filmset arbeitete – über den Film selbst bleibt aber zu viel im Dunkeln. dr
Escape to the Silver Globe läuft in der Reihe Best of Fests.
Imad’s Childhood (Schweden)
Während Europa den Atem anhielt, als in der Ukraine Krieg ausbrach, ist in Kurdistan seit Jahren trauriger Alltag. Hier lebt Yazidi Ghazala mit ihren beiden Söhnen bei ihrer Familie. Alle drei wurden vom IS gefangen genommen und nach zwei Jahren befreit. Die Dokumentation Imad’s Childhood begleitet vor allem ihren älteren Sohn Imad. Er ist viereinhalb Jahre alt, als das Filmteam eintrifft und hat damit ungefähr sein halbes Leben beim IS verbracht. Die Doku zeigt ein Kind, das in der Spiderman-Sweatshirtjacke aggressiv auf andere Kinder zugeht, diese schlägt und anspuckt. Ein Kind, das seiner Mutter gegenüber nur Hass empfindet und nur lächelt, sobald es eine Spielzeugwaffe in der Hand hat. Das alles sind Verhaltensweisen, die er im IS gelernt und verinnerlicht hat. Zurück bei seiner Familie versucht diese zu ihm durchzudringen.
Die Dokumentation begleitet die traumatisierte Mutter, die sich die Frage stellt, wie sich ihr Kind noch normal entwickeln soll. Dabei sind einige der Szene sind selbst für Erwachsene schwer zu ertragen, dass man sich eigentlich eine Triggerwarnung am Anfang des Filmes gewünscht hätte. Die Dokumentation schafft es letztendlich den Kontrast zwischen Kindern, die in gesunder Umgebung aufgewachsen sind, und Imad dramatisch aufzuzeigen. Interessant wäre dabei noch gewesen, in welchem zeitlichen Rahmen die Doku genau spielt, klar wird nur, dass sie 2016 beginnt und mindestens über einen Zeitraum von mehreren Monaten bis mindestens 2017 andauert. lb
Imad’s Childhood läuft in der Reihe Best of Fests.
Das DOK.fest 2022 findet vom 4. bis zum 15 Mai an den Spielorten statt, vom 9. bis 22. Mai könnt ihr die Filme zu Hause genießen. Einzelkarten kosten einheitlich 7,50 Euro.