Filmklassiker der Woche

Die zwölf Geschworenen

/ / Bild: MGM Studios

Mit dem ersten Projekt gleich einen guten Film zu machen ist für die meisten debütierenden Regisseur*innen eine große Herausforderung. Direkt mit dem ersten Werk einen Klassiker der Filmgeschichte zu erschaffen scheint hingegen vollkommen utopisch. Doch genau das gelang Sidney Lumet 1957 mit Die zwölf Geschworenen, der auch heute noch zum Besten gehört, was das Genre zu bieten hat.

Ein 18-jähriger Junge mit Migrationshintergrund steht vor Gericht. Die Anklage: Er soll seinen eigenen Vater nach einem Streit erstochen haben, wofür ihm nun die Todesstrafe droht. Das Leben des Jungen liegt nach Abschluss des Prozesses einzig und allein in den Händen der zwölf Geschworenen, die einstimmig darüber entscheiden müssen, ob der Angeklagte schuldig oder nicht schuldig ist. Trotz der vermeintlich eindeutigen Beweislage weigert sich einer der Geschworenen, Nummer 8 (Henry Fonda), direkt bei der ersten Abstimmung für schuldig zu stimmen. Er hat berechtigte Zweifel an der Schuld des Angeklagten und versucht die drohende Verurteilung noch abzuwenden.

Intimität eines Theaterstücks

Mit dieser klaren Ausgangslage schafft es Regisseur Sidney Lumet eins der besten Gerichtsdramen der Filmgeschichte auf den Weg zu bringen. Die Handlung von Die zwölf Geschworenen findet zum größten Teil in nur einem Zimmer statt, einzig mit den zwölf, titelgebenden Figuren. Dadurch wirkt der Film in seiner Intimität phasenweise sogar wie eine Theateraufführung.

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Trailer zu Die zwölf Geschworenen

Dieser Eindruck wird zusätzlich von der starken Charakterisierung der zwölf Figuren verstärkt. Nahezu durch die gesamte Handlung des Films weiß das Publikum nicht einmal wie die Geschworenen heißen, sprechen sie sich selber doch nur mit ihren Nummern an. Reginald Rose, der bereits das Drehbuch für das gleichnamige Fernsehspiel, auf dem der Film basiert, schrieb, gibt jedem einzelnen der Juroren ein eigenes Motiv für seine persönliche Entscheidung. Diese reichen von einem dem Angeklagten ähnlichen soziokulturellen Hintergrund, über die kühle und sachliche Analyse der Beweislage, bis hin zu offenem Rassismus. Auch ohne Namen gelingt es Rose und Lumet meisterlich für jede der Rollen ein klares Profil zu schaffen.

Handwerklich brillant

Meisterlich ist auch die Arbeit von Kameramann Boris Kaufman. Bereits in den Anfangsszenen weiß er den Blick des Publikums mit Kamerafahrten an eine bestimmte Stelle zu lenken und schafft so ein gewisses Vertrauen für die Bewegungen seiner Kamera. Das soll sich im Laufe des Films auszahlen: Während sich die Kamera zu Anfang der Diskussion der Geschworenen noch über den Köpfen der Akteure befindet und einen relativ neutralen, beobachtenden Überblick über die Diskussion gibt, so wandert sie im Verlauf des Films immer tiefer. In den Abschlussszenen werden die Figuren auf Augenhöhe oder gar darunter gefilmt, das Publikums kann sich so als Teil der Diskussion über Leben und Tod des Angeklagten fühlen. Auch 63 Jahre nach Erstveröffentlichung des Films wirken nur wenige Bilder und Schnitte nicht auf dem Stand moderner Produktionen; ein Zeugnis für die Zeitlosigkeit von Lumets Regie, Kaufmans Kamera und Carl Lerners Schnitt.

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Geschworener Nummer 11 (George Voskovec) plädiert für die Vorzüge der Demokratie.

Trotz der technischen und handwerklichen Exzellenz ist Die zwölf Geschworenen aber vor allem dank seines Inhalts ein echter Meilenstein der Filmgeschichte. Der Film darf dabei jedoch nicht als ein Einblick in das US-amerikanische Justizsystem gewertet werden, da gewisse Verhaltensweisen der Geschworenen im Film, wie beispielsweise das Nachstellen von Zeugenaussagen, in einer echten Verhandlung nicht zulässig sind.

Einblick in Gruppendynamiken

Viel mehr liefert Sidney Lumet einen hervorragenden Einblick in Gruppendynamiken und die Motivationen einzelner Personen in Machtsituationen. Der Großteil der Spannung des Films liegt nicht in der Entkräftung der Beweislage, sondern darin, wann welcher Geschworener seine Meinung ändert. So ziehen nicht etwa die Juroren mit den klar negativen Motiven des Rassismus oder der persönlichen Befangenheit den meisten Ärger auf sich. Stattdessen wird der Geschworene Nummer 7, dem der Ausgang des Verfahrens eigentlich egal ist, da er Tickets für ein Baseball-Spiel hat und so die Abstimmung möglichst schnell hinter sich bringen will, zum größten Feind beider Lager, weil er den Ernst der Lage nicht wahrnimmt.

So stellt Lumet in seinem Film Fragen nach den Grundsätzen der US-amerikanischen Demokratie, dem Einfluss von Vorurteilen auf die eigenen Entscheidungen und dem leichtfertigen Umgang mit Menschenleben. Fragen also, die angesichts der auch 2020 noch stark vorhandenen Diskriminierung im Justizsystem der USA immer noch ausgiebig diskutiert werden.

Die fortwährende Relevanz des Lumet-Klassikers zeigt sich auch in der Anzahl der Adaptationen des Stücks. Vielfach wurde Die zwölf Geschworenen auf Theaterbühnen aufgeführt, zudem hielt der Film mit Parodien in Serien wie Die Simpsons oder Family Guy Einzug in die US-amerikanische Popkultur. Auch international konnte Die zwölf Geschworenen seine Wirkung entfalten: Unter anderem eine deutsche Version mit Mario Adorf in der Hauptrolle wurde bereits 1963 vom ZDF produziert, die russische Adaptation 12 wurde 2007 gar für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Es gibt also keine Zweifel daran, dass Die zwölf Geschworenen, nicht nur dank seiner Adaptationen, auf unbegrenzte Zeit einen Platz in den Klassikerlisten der Filmgeschichte einnehmen wird.