M94.5 Buchkritik
Die letzte Flaschenpost
Was hinterlassen wir, wenn wir einmal nicht mehr da sind? Kinder? Ein Vermögen? Werke? Der Dichter Otto Maaßen hinterlässt seine Gedichte und wirft sie als Flaschenposten in den Rhein. Eine Reise beginnt. Erzählt wird diese Reise von Autorin Annika Kemmeter in ihrem Debütroman Die letzte Flaschenpost.
Eigentlich studiert Janis Kunstgeschichte. Doch sein Professor empfiehlt ihm für seine Masterarbeit über die Materialität in der Kunst mit einem Dichter zu sprechen: Otto Maaßen. Der schreibt seine Verse teilweise auf Teller und mag die Fächer-Gedichte von Mallarmé. Zuerst ist Janis skeptisch, doch fährt er trotzdem von Mainz nach Lindau, um den Lyriker bei einer Vernissage zu treffen.
Der Künstler, ein gewisser Günther V., von dem ich noch nie gehört hatte, schien eine Vorliebe für tote Vögel zu haben. In schwarzer Tusche auf weißer Leinwand reckten sie mir von allen Seiten ihre Krallen entgegen. Ein Streichquartett quietschte unmelodische, moderne Kompositionen. Maaßen unterhielt sich mit einem Mann mit großer Brille und dünnem, schwarzen Haar und einem Mädchen, das wie die Königin des Abends wirkte. Oder wie die Prinzessin. Die Eleganz, mit der sie ihr Glas hielt, überstrahlte hier jedes Bild.
Das Mädchen, das so strahlt, ist Angelina, die Enkelin von Maaßen. Relativ schnell entspinnt sich eine Liebesgeschichte zwischen den beiden, die von Autorin Annika Kemmeter leichtfüßig und klischeebefreit erzählt wird, mit erfrischenden Dialogen und einem Gespür für die richtige Portion Emotionen. Doch die gebürtige Mainzerin hat nicht nur eine Liebesgeschichte geschrieben. Ihr Roman ist zusätzlich mit Krimi-Elementen und Plot-Twists angereichert, die die Leser*innen in das Buch hineinziehen. Denn Maaßen wird todkrank und schmiedet vor seinem Ableben einen Plan.
Angelina schniefte. ‚Typisch Otto!‘ Ihre Stimme klang dünn. Ich fragte mich, ob sie gleich weinen würde. Ich sah mich um und fand eine Bank. Ich musste mich setzen. ‚Er will mit seinem Agenten, Hans Huber heißt der, eine Fahrt aufs Meer machen. Notariell ist alles geregelt. Jedenfalls will er als unsterblich in die Geschichte eingehen. Niemand darf auch nur wissen, dass er überhaupt krank ist. Aber was mache ich denn bloß?‘ Ich verstand kein Wort.
Der Plan ist, auf mysteriöse Weise zu verschwinden und davor noch seine neuesten Gedichte in Flaschen verpackt den Rhein entlang zu schicken. Als Janis davon erfährt, ist er entsetzt. Während Maaßen den Künstler Banksy verehrt, findet Janis die Vorstellung, die eigenen Werke zu zerstören oder dem Zufall zu überlassen schrecklich. Als der Dichter schließlich stirbt, bricht er deshalb zusammen mit Angelina zu einer Reise den Rhein entlang auf, um die Flaschenposten zu finden. Was Angelina jedoch nicht weiß: Janis hat die Gedichte im Keller Maaßens vorab gefunden und sicherheitshalber fotografiert. Umso verwunderter ist er, als eine Flaschenpost tatsächlich auftaucht.
Schon beim ersten Wort hatte ich gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Nicht stimmen konnte. Das war kein Gedicht von Maaßen. ‚Gezeichnet Otto Maaßen‘, fügte Angelina leise hinzu. Ich nahm ihr das Blatt aus der Hand. Es war Maaßens Handschrift. Dieselbe Tinte. Aber ich war mir sicher, dass es keins der sieben Gedichte war.
Je länger die Suche dauert, desto klarer wird: irgendetwas stimmt hier nicht. Annika Kemmeter ist in ihrem Debütroman eine schöne Mischung aus Liebesgeschichte und spannender Story gelungen, in der sie ein gutes Gespür für witzige und authentische Dialoge zeigt. Lediglich das Ende ist etwas unbefriedigend, da hier in die Auflösung ein bisschen zu viel des Guten gepackt wurde. Insgesamt ist Die letzte Flaschenpost aber sehr kurzweilig, literarisch ansprechend, mit einer interessanten Grundidee und einer Geschichte, die zum Weiterlesen einlädt.
Die letzte Flaschenpost ist im Diederichs Verlag erschienen und kostet als Hardcover 18 Euro. Ein ausführliches Interview mit der Autorin gibt es hier.