Kommentar
Die Hochheiligkeit der Lohnarbeit
Home Office heißt für viele Menschen: Arbeiten ohne Ende. Und das oft freiwillig. Die Lohnarbeit ist den Deutschen fast noch wichtiger als der Senf auf der Bockwurst. Dabei bringt die ganze Produktivität nichts, wenn die Depression sofort nach dem Ausschalten des Arbeitslaptops reinkickt. Ein Kommentar von Johanna Felber.
Im Home Office ist ein geregelter Alltag eine echte Herausforderung, besonders was die Arbeitszeiten angeht. Wer nicht mehr sieht, dass alle anderen Kolleg:innen schon nach Hause gegangen sind, findet sich oft noch spät abends vor dem Arbeitslaptop wieder. Besonders im Home Office sammeln sich so die Überstunden an, im Schnitt bis zu 3,5 Stunden pro Woche und oft sogar undokumentiert.
Verantwortlich dafür sind zwar zum Teil der Personalmangel oder strenge Deadlines. Aber gerade im Home Office ist es unser eigenes Pflichtgefühl, das uns vor dem Bildschirm hält. Nach fast zwei Jahren Pandemie und dezentralem Arbeiten sollten Arbeitnehmer:innen endlich die Möglichkeit bekommen, der Arbeitslast klare Grenzen zu setzen – und sie auch ergreifen.
Alles für die Karriere
Verantwortung für einen Job zu übernehmen, kann natürlich auch erfüllend sein. Ein Projekt auf die Beine zu stellen und es bis zur Umsetzung zu bringen, macht richtig Spaß und bestätigt – zumindest wenn es gut über die Bühne gegangen ist – die eigene Kompetenz und Leistungsfähigkeit. Eigenschaften, die in der momentanen Arbeitswelt zwischen Chefsessel und Büßerstühlchen entscheiden können. Über das geforderte Maß hinaus zu arbeiten, kann also auch eine Investition in sich selbst und die eigene Karriere sein.
Geld oder Leben?
Problematisch wird das dann, wenn Arbeitnehmer:innen das geforderte Maß nicht richtig einschätzen können, was bei den aktuellen Gepflogenheiten in der Unternehmensführung auch sehr wahrscheinlich ist: Arbeitsziele werden laufend nach oben geschraubt, Erfolge werden nur in Zahlen und Benchmarks gemessen, Arbeitgeber:innen delegieren die Verantwortung immer mehr an ihre Angestellten, die dann auch die Konsequenzen für eventuelles Scheitern tragen müssen.
Der Arbeitsalltag wird so zum täglichen Wettkampf – um den Unternehmenserfolg und um den eigenen Arbeitsplatz. Gerade im Home Office besteht die Gefahr, die Erwartungen der Arbeitgeber:innen falsch einzuschätzen, weil der Vergleich zur Arbeitslast der Kolleg:innen fehlt. Der Erfolgs-Wettkampf wird dann geführt, ohne zu wissen, wo eigentlich die Ziellinie ist. Ein solcher dauerhafter Stress kann unter anderem Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes, Magen-Darm-Erkrankungen und Depressionen verursachen.
Initiative ergreifen – aber für sich selbst!
In der Pflicht stehen da natürlich die Unternehmen, nicht auf Kosten ihrer Mitarbeiter:innen zu wirtschaften. Aber auch Arbeitnehmer:innen tragen die Verantwortung für ihre eigene Gesundheit. Solange alle bei diesem Spiel mitspielen, wird sich an der prekären Situation vermutlich nichts ändern – denn die Wahrheit bleibt im Home Office versteckt.