Filmkritik
Der Spitzenkandidat
Er wäre die Idealbesetzung für einen demokratischen Präsidentschaftskandidaten gewesen – wenn die Presse sein Privatleben nicht so genau unter die Lupe genommen hätte. Der Spitzenkandidat erzählt die wahre Geschichte von Gary Hart, der 1988 der mächtigste Mann der Welt werden wollte.
Mit Donald Trump hat sich die US-Präsidentschaft in Reality TV verwandelt. Dass die amerikanischen Wahlkämpfe schon lange vor ihm ein Medienspektakel waren, zeigt Der Spitzenkandidat. Darin geht es um Gary Hart, der Mitte der 1980er Jahre zum Polit-Star aufstieg, in der Tradition John F. Kennedys: smart, charismatisch, gutaussehend. Dass er notorisch sachorientiert war und sich weigerte, Privates zum Thema zu machen, war für die Presse schwer zu ertragen. 25 Jahre nach Kennedys Tod war sie nicht mehr zu überzeugen, die Gerüchte um ein nicht ganz monogames Privatleben zu ignorieren.
Das Problem mit Privatsphäre und Journalismusethik
Regisseur und Drehbuchautor Jason Reitman, der mit Juno und Up in the Air etliche Preise abgeräumt hat, verfilmte mit Der Spitzenkandidat das Buch All the Truth is Out: The Week Politics Went Tabloid. Darin werden einige bis heute relevante Gewissenskonflikte verhandelt. Im Film wird darüber diskutiert, ob es sich ein Medium leisten kann, bei der Jagd nach Skandalen nicht mitzumachen. Dass das Durchleuchten von Privatleben Grenzen kennen sollte, stellt Gary Hart selbst zur Debatte:
“In einem öffentlich geführten Leben mögen manche Dinge interessant sein, aber das bedeutet nicht notwendigerweise, dass sie auch wichtig wären. […] Wir müssen das System, mit dem wir unser landesweites Führungspersonal auswählen, ernsthaft hinterfragen. Es macht die Presse zu Jägern und Präsidentschaftskandidaten zu Gejagten. Und dann fragen sich schwerfällige Experten in gespielter Ernsthaftigkeit, warum einige der besten Leute dieses Landes nicht zur Wahl für ein hohes Amt antreten.”
Aus der Rede von Gary Hart zum Ende seiner Präsidentschaftskampagne
Der Spitzenkandidat nimmt nicht nur die Presse ins Visier, sondern auch das bisweilen schmutzige Geschäft politischer Kampagnen. Im Dienst der vermeintlich höheren Sache wird die junge Geliebte den Boulevardmedien zum Fraß vorgeworfen und ihre Glaubwürdigkeit systematisch untergraben. Eine Methode, mit der Bill Clinton einige Jahre später Monica Lewinsky das Leben schwer macht.
Zwischen Politik und Sex-Skandalen
Das Ensemble ist gespickt mit Oscar-, Golden-Globe- und Bafta-Nomierten, die gewohnt routiniert und überzeugend abliefern: Hugh Jackman verkörpert den smarten Gary Hart, Vera Farmiga seine Frau Lee, die sich mit den Eskapaden des Gatten arrangiert hat. J.K. Simmons gibt den famos stoischen Wahlkampfleiter Bill Dixon und Alfred Molina den legendären Chefredakteur der Washington Post, Ben Bradlee. In knapp zwei Stunden Film sind auch ein paar amüsante (und wahre) Anekdoten versteckt. Zum Beispiel der Fakt, dass Gary Hart während einer vorübergehenden Trennung von seiner Frau einige Zeit bei Bob Woodward wohnte – dem weltberühmten Reporter, der zusammen mit Carl Bernstein den Watergate-Skandal unter Richard Nixon aufgedeckt hat.
Der Spitzenkandidat erscheint streckenweise ein bisschen trocken, weil sich der Film weitgehend an historische Fakten hält. Da amerikanische Politik aber mittlerweile ein so essentieller Bestandteil der Popkultur geworden ist, bekommt das Publikum hier eine Art Making-of der heutigen Beziehung zwischen Presse und Präsidentschaft zu sehen. Das Politdrama dokumentiert eine Zeitenwende: Wo vorher Boulevard und Politik noch wenig Überschneidung hatten, läutet Gary Harts Kandidatur eine Ära politischer Sex-Skandale ein.
Der Spitzenkandidat ist seit 16. Dezember 2020 bei Netflix im Stream abrufbar.