Kommentar
Der leiseste gemeinsame Nenner
Gewalt, Kriege und Ungerechtigkeit werden zum Großteil von Männern verursacht. Das scheinen jedoch weder die breite Öffentlichkeit noch die Politik einzusehen. Redakteur Maxim Nägele erklärt das Paradoxon seines Geschlechts und sucht nach möglichen Auswegen. Ein Kommentar.
Warnhinweis: Dieser Text beschuldigt nicht alle Männer, richtet sich aber an jeden.
Öl-Konzerne verwässern ihre Klimaziele.
AfD gewinnt Landtagswahl in Thüringen.
Gewalt-Exzesse in Großbritannien: Unruhe nach Messerattacke.
Wenn man den kleinsten gemeinsamen Nenner dieser Schlagzeilen sucht, dann ist die wohl offenkundigste Antwort: Männer. In den Führungsebenen der fossilen Energiekonzerne tummelt sich überwiegend ein Geschlecht. Der Stimmanteil der AfD lag bei Männern mit 38 Prozent wesentlich über dem der Frauen mit 27 Prozent. Und die Bilder der gewaltsamen Aufstände britischer Rechtsradikaler nach einer Messerattacke eines 17-Jährigen, bei der drei Mädchen gestorben sind, ist eindeutig männerdominiert. Insgesamt wurden und sind die weltweiten Krisen und Paranoia zu einem sehr großen Teil von Männern verursacht.
Aber warum wird darüber nicht gesprochen oder dagegen vorgegangen?
Der naheliegendste Grund für dieses Paradoxon ist vermutlich, dass eine breite Masse daran noch immer nicht glauben will. Deswegen kommen hier für das vermeintlich starke Geschlecht ein paar unangenehme Fakten: Laut statistischem Bundesamt sind 93,9 Prozent der deutschen Gefängnisinsassen Männer, im letzten Jahr waren, dem Bundeskriminalamt zufolge, 86 Prozent der Mordverdächtigen in Deutschland männlich und die maskuline Hälfte der Bevölkerung neigt nachweislich weniger zu einem umweltfreundlichen Lifestyle als die andere. Ziemlich viel Statistik, die sich doch mit einer einzigen Zahl zusammenfassen lässt: 63 Milliarden Euro.
Wo kein Kläger, da kein Richter
So viel Mehrkosten verursachen Männer in Deutschland jährlich durch gewaltsames, risikobereites und schädliches Verhalten. Diese Summe errechnete der Wirtschaftswissenschaftler und Männerberater Boris von Heesen für sein Buch “Was Männer kosten. Der hohe Preis des Patriarchats”. Der Untertitel verrät, warum dieses Männer-Paradoxon so ungestört bestehen kann. Solange die Führungsriegen von Wirtschaft, Politik und Kultur phallusgesteuert bleiben, dürfen die männlichen Gleichgesinnten weiterhin die Kriminalstatistiken selbst überbieten. Wo kein Kläger da kein Richter. Doch die maskuline Zerstörungskraft erreicht die gesamte Gesellschaft, mehr noch, sie betrifft vorrangig und überproportional Frauen. Jeden Tag versucht ein Mann in Deutschland, seine Partnerin zu töten, jeden dritten schafft er es. Und nicht einmal da wird der Mann als systematischer Täter benannt, denn im deutschen Rechtssystem sind Femizide bis heute kein eigener Strafbestand. Tiefgreifender Frauenhass versteckt sich so ideal hinter tausenden zufälligen Einzeltaten.
Doch auch in der Politik und den Medien werden Gewalttaten und Krisen nicht als geschlechtsspezifisches Problem anerkannt. Verbrecher werden aufgrund ihrer Herkunft, Religion, Bildung oder Klasse identifiziert und problematisiert, jedoch nie aufgrund ihres Geschlechts. Dass Männer fast doppelt so viele Verkehrsunfälle wie Frauen verursachen, wird von den ausschließlich männlichen Bundesverkehrsministern weggelächelt. Noch drastischer wird das männliche Geschlecht bei der Diskussion um Innere Sicherheit kleingeredet. Öffentliches Gefährderpotential entsteht erst, wenn zum Geschlecht eine fremde Staatsangehörigkeit oder eine andere Hautfarbe dazukommen. Statt die hausgemachten Konflikte anzugehen, werden die steigenden Kriminalstatistiken der Bundesrepublik durch schärfere Migrationspolitik nur kurzsichtig bekämpft.
“Emanzipiert euch endlich selbst”
Um politische, ökonomische und ökologische Krisen zu überwinden, muss man der Realität ins Auge blicken: Mit der Erkenntnis, dass sich vielleicht nicht immer die gesamte Gesellschaft wandeln muss, sondern insbesondere ihre männlichen Mitglieder. Auch wenn das weniger populistischen Nutzen hat und viele unterdrückte Gefühle verletzen könnte. Doch letztlich muss ein Umdenken her, ein neues Männerbild, das vielleicht mit dem Apell der Journalistin Elisa von Hof beginnen sollte: “Emanzipiert euch endlich von euch selbst”.
Solange dieser blinde Fleck in der öffentlichen Wahrnehmung bestehen bleibt, werden die Krisen und Sorgen, die uns beschäftigen, nie vollständig erfasst – und gelöst sowieso nicht. Die geschlechterspezifischen Schieflagen der Welt anzuerkennen ist weder Männerhass noch radikaler Feminismus, sondern ein Rationalismus, der heute nötiger ist als morgen.