Kulturkritik

Das war Rodeo 2020

/ / Die Schauspieler*innen von "Kein Kläger" am Königsplatz Foto: Janina Rohleder/M94.5

Städtische Räume bespielen, raus aus den üblichen Institutionen des freien Theaters kommen, das ist die Idee des diesjährigen Rodeo Festivals. Vom 17. Oktober bis zum 01. November fand das Festival der freien Tanz- und Theaterszene in München statt. Wir haben uns verschiedene Veranstaltungen angeschaut und ziehen Resümee.

Plattenbauphilosophie. Kopfkino #7 – literarische Spaziergänge durch München!

Ohne den Raum zu verlassen, begeben sich die Zuschauer:innen auf einen Spaziergang durch Neuperlach. Am Tisch sitzend, auf Decken liegend, lauschend – Kopfkino. Die Zuhörer:innen folgen Murat und Damla, die sich auf einer Parkbank im Ostpark begegnen und die sich einander lieber als Alex und Martha vorstellen – weil es einfacher ist. Und sie folgen der Penny-Kassiererin, die in der pandemischen Abgeschirmtheit hinter Masken und Plexiglas vereinsamt, während sie auf ihn wartet. Im 1. Stock des KulturBunts, dem Kulturzentrum in Neuperlach, wird der Prosatext von Emre Akal live von Henriette Schmidt und Benno Heisel vertont, als Teil ihrer Podcast-Reihe Stadtspaziergang. Es wird von flüchtigen Begegnungen und Verstrickungen erzählt, davon wie man an die Existenz Gottes, zwischen grauen Häuserschluchten und Zigarettenkippen in den Plattenbauhäusern aus der Nachkriegszeit, entweder nur schwerlich glauben kann oder gerade deshalb.

Um Abgeschiedensein und Abgeschieden-werden von Kunst und Kultur geht es auch im anschließenden Talk über Kunst und Stadt. Denn schon in unserer Sprache zeigt sich: wir fahren rein in die Innenstadt und raus nach Hasenbergl oder Neuperlach. Das Unterteilen in Innen und Außen, in Zentrum und Peripherie verengt die Kunstszene, räumlich und intellektuell. Und auch wenn das Rodeo Festival und die Diskutant:innen keine konkreten Lösungen haben, wie das Gefälle in der Stadt konkret aufgebrochen werden kann, stellen sie schon einmal die richtigen Fragen. as

O.S.T. Soundwerkstatt

Synthesizer, Drumcomputer, Equalizer, 808, 909 Ableton – Begriffe, die für viele eher Fremdwörter sind. Das Rodeo Festival sorgt für die Übersetzung: Die OST 15,9 Soundwerkstatt in der Lounge vom MIRA Einkaufszentrum im Haselbergl hilft da weiter. Denn dort schnuppert jede Altersklasse unter Anleitung in die Sound-Produktion hinein. Beats werden mit Synthesizer und Drumcomputer zusammengebastelt, mit einem Aufnahmegerät werden Klangexperimente erzeugt. Für Nachwuchs-Talente steht hier jede Möglichkeit offen, sich selbst auszuprobieren. tf

Kein Kläger

Wie lange waren NS-Juristen eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg noch in wichtigen Ämtern? Wie viele Kriegsverbrecher wurden tatsächlich für ihre Taten unter Hitler bestraft? Und was ist eigentlich beim NSU-Prozess alles schief gegangen? In ihrem Stück Kein Kläger untersucht Christiane Mudra in beeindruckendem Umfang die Münchner Justizgeschichte, vom Dritten Reich bis heute. Der gut dreistündige Theater-Spaziergang durch München beginnt am OEZ, dort, wo 2016 ein rechtsradikaler Jugendlicher neun Menschen tötete. Er geht weiter am Amtsgericht München, wo der NSU-Prozess stattfand. Auch am Landgericht München I macht die Gruppe Halt: hier wurde die Gruppe Weiße Rose 1943 zum Tode verurteilt. Geschickt verknüpft Mudra immer wieder Vergangenheit und Gegenwart und zeigt damit auf, dass rechte Gesinnungen in der Justiz keineswegs verschwunden sind.

Fünf Schauspieler*innen führen durch den Abend, spielen Szenen vor den Schauplätzen und erklären darin vor allem viele Fakten und Hintergrundwissen. Zusätzlich dazu gibt es eine App, in der man Zeitzeugenberichte anschauen und vielerlei Fragen beantworten kann. Etwa zur Umbenennung kritischer Straßennamen in München. Am Ende ist man schier erschlagen, von der Informationsdichte. Doch sie bringt einen zu einer wichtigen Erkenntnis: dass es extrem wichtig ist, das eigene Rechtssystem vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus (und auch heutigem Nationalismus) hin zu überprüfen. Eine gelungene, eindrückliche und wichtige Theater-Performance. jr

Talkshow Rodeo – Route 1: Baustelle Utopia

Die abendfüllende Tour der Route 1: Baustelle Utopia bewegt sich quer durch die Stadt, vom Einkaufszentrum Mira in Hasenbergl, über den Kunstpavillon im alten botanischen Garten bis zum Kulturhaus Neuperlach. Im Einkaufszentrum Mira bringen vier Tänzerinnen in pinken Pullis unter der Regie von Micha Purucker Kunst ins Einkaufszentrum, ohne dabei groß das Einkaufen zu stören. Im alten botanischen Garten vor dem Kunstpavillon reflektiert Michel Massmünster über München, über die Stadt an sich und wird dabei begleitet von Asmir Schabitsch an der Mandoline. Der Text lädt dazu ein die eigenen Gedanken wandern zu lassen, zu den Orten zu reisen, die erwähnt werden und sich zu fragen, wie es sich anfühlt, in München zu leben.

Gerade an den ersten beiden Stationen der Tour, erreichen die Performances merkbar auch Publikum, das nicht geplant hatte, eine Performance zu sehen. Sie laden ein zum Betrachten und Nachdenken. Sie führen raus aus dem planbaren, erwartbaren Alltag, der allzu unhinterfragt vorbeiwabert und zeigen sowohl andere Seiten der Kunst, als auch der Stadt. Die letzte Station fühlt sich da wie ein radikales Kontrastprogramm an. Mit „Liberty Café“ nehmen Ralf Homann und Manuela Unverdorben die Rolle von Immobilien Expert:innen ein, die einem Publikum aus Spekulant:innen aktuelle Zahlen vermitteln. Ja, die Performer:innen machen sich über die bizarren Verhältnisse und über das Sprechen von Menschen lustig, die sich mit dem Wohnraum von anderen bereichern. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Performances aber, baut die triefende Ironie des gesamten Konzepts eine Distanz zum eigentlichen Thema auf. Es ist ein Abend, der Kunst an ungewöhnlichen Orten stattfinden lässt und dabei nicht nur eine neue Perspektive gegenüber der Stadt einnimmt, sondern auch gegenüber der Kunst. ag

Das hier ist für Dich. – Eine Erinnerung an das OEZ-Attentat

Der Anschlag vom OEZ am 22. Juli 2016 ist das Thema von Maja Das Guptas preisgekrönten Kurzhörspiel „Das hier ist für dich“. Zum Jahrestag im Sommer wurde das Hörspiel schon einmal aufgeführt, da zum stationären Anhören in einem kleinen Atelier in Moosach – beim Rodeo Festival wird es als „Audio Walk“ aufbereitet. Corona-bedingt weicht man nach draußen aus, die Zuschauer:innnen hören es gemeinsam beim 30-minütigen Spaziergang zum Denkmal vor dem OEZ. Allerdings merkt man dem Ganzen an, dass die Aufmachung als „Audio Walk“ nicht von Anfang an geplant war: die Einführung ist ein bisschen durcheinander, v.a. der „Talk“ nach dem Hörspiel vor Ort am Denkmal wirkt eher unstrukturiert und scheint kein richtiges Ende zu nehmen.

Was schade ist: einige Erkenntnisgewinne aus der Recherche von Maja Das Gupta sind nämlich interessant, z.B. Erfahrungsberichte von Anwohner*innen und betroffenen Familien, oder der Umstand, dass der Anschlag bis 2018 noch offiziell als „Amoklauf“ galt und erst dann (nach langem Einsatz von Angehörigen) als „rassistisches Attentat“ anerkannt wurde, obwohl die rassistische Motivation des Täters eindeutig war. Tatsächlich ist erst vor ein paar Wochen die Inschrift auf dem Denkmal geändert worden, zu „In Erinnerung an alle Opfer des rassistischen Attentats“. Das eigentliche Hörspiel geht etwas unter, ist aber vielleicht auch ganz gut so, das hat Maja Das Gupta nämlich schon 2016 ziemlich spontan und mit einfachen Mitteln produziert und klingt weniger nach professionellem Hörspiel als nach nachdenklichem Monolog mit ein paar unpassenden Verfremdungseffekten. „Das hier ist für dich“ ist deshalb weniger ein tolles Hörspiel-Erlebnis und mehr ein Denkanstoß: weg von der Täterperspektive, die einem rechtsextremen Menschen eine viel zu große Bühne gibt, und hin zur Perspektive von denen, die bis heute von rechtsextremer Gewalt betroffen sind. nc