Theaterkritik
Das Vermächtnis – The Inheritance
Fesselndes Storytelling braucht Zeit. Zeit, die sich Phillipp Stölzl mit der aktuellen Inszenierung von Matthew Lopez “Das Vermächtnis” nimmt. Dabei bedient sich das zweigeteilte Theaterstück an Elementen aus E.M. Forsters Roman “Wiedersehen in Howards End” und transferiert diese ins aktuelle Jahrhundert auf die Bühne des Residenztheaters. Ein Wechselspiel aus Komik und Tragik, Vergangenheit und Utopie.
Man könnte genauso gut mit der mietpreisgebundenen Stadtwohnung mitten in Manhattan beginnen, in die die Zuschauenden innerhalb der ersten Minuten mitgenommen werden. Sie ist das Zuhause der beiden Protagonisten Eric Glass (Thiemo Strutzenberger) und Toby Darling (Moritz von Treuenfels). Zwischen mattweißen Möbeln und kulturellem Namedropping lernen wir die beiden hier genauer kennen – als Paar, aber auch als Individuen. Vorgestellt werden sie uns von den Autoren der Geschichte, die allesamt in schwarzen Rollkragenpullovern (Klischee pur) am Rand sitzen und die Charaktere formen. Ihr Mentor ist dabei kein anderer als Autor E.M. Forster, der auf dieser Meta-Ebene unmittelbaren Einfluss auf das Bühnengeschehen hat.
Verliebt, Verlobt, Verlust?
Die Geschichte von Eric und Toby beginnt vorerst sehr klamaukig. Toby kotzt während einer Party in Meryl Streeps Schoß, wenige Tage später macht Eric ihm beim Sex einen Heiratsantrag – das Übliche eben. Der Großteil des Publikums findet das großartig, manche sind eher skeptisch. Nachdem auf der Bühne über “Sperma im Arsch” gesprochen wird, verlässt ein älteres Pärchen das Theater.
Damit verpassen sie allerdings Einiges, denn das Stück nimmt sich etwas Zeit, um wirklich Fahrt aufnehmen. Schließlich brauchen die Protagonisten eine gewisse Fallhöhe und die Storyline zusätzliche Charaktere. Also beginnt Toby sich in einer Sehnsucht nach dem jungen Adam (Vincent zur Linden) zu verlieren, blind vor Bewunderung und Begierde. Eric hingegen lernt den 55-jährigen Walter (Michael Goldberg) näher kennen, der ihm die Vergangenheit der schwulen Community in New York näher bringt. In seinen Erzählungen führt er Eric und dem Publikum vor Augen, welche verheerenden Auswirkungen die Aidsepidemie der 1980er-Jahre für die LGBTQIA+ Community hatte.
Wer wollen wir sein?
Die zentrale Frage, die das Stück so in den Raum stellt, ist die nach der Verantwortung zwischen schwulen Männern unterschiedlicher Generationen. Dabei nimmt sich “Das Vermächtnis” zwar viel Raum für Vergangenes, reflektiert aber auch die aktuelle Situation: “Eigentlich ist die Epidemie nur für weiße Männer aus der Mittel- und Oberschicht vorbei”, heißt es bei einer Diskussion unter Erics Freunden. Was ist mit all denen, die sich Medikamente und Behandlungen nicht leisten können? Als Trump dann die Wahl gewinnt und die von Aktivist:innen erkämpften Freiheiten plötzlich ins Wanken geraten, wird auch die Lebensrealität der LGBTQIA+ Community in den Vereinigten Staaten erneut zum Thema.
Sensibel, offen und unfassbar rührend nähert sich Matthew Lopez’ Werk so einer von Verlust geprägten Vergangenheit und Gegenwart. Die Inszenierung und Darsteller:innen bringen die Naivität, Unsicherheiten und Abgründe der einzelnen Charaktere so lebensnah und charismatisch auf die Bühne, dass sie das Publikum an die Theatersessel fesseln. Nur manchmal verlaufen sich kleinere Dialoge und Nebenrollen in überzeichneten oder unauthentischen Passagen. Dann dreht sich das Bühnenbild aber wieder und die nächste Szene zieht einen zurück in den Bann des Stücks.
Die sechs Stunden, die “Das Vermächtnis” braucht, sind gefüllt mit bedeutungsschweren Wortwechseln und verflochtenen Handlungssträngen: sich türmende Schicksalsschläge, verzweifelte Liebeserklärungen, Ehe ohne Sex und Sex für Geld. Kulturelles Binge-Watching voller Humor, Tiefe und Emotion.
“Das Vermächtnis – (The Inheritance)” feiert am 30.01.2022 Premiere am Residenztheater und ist bis Ende März dort zu sehen. Karten für beide Teile – entweder direkt hintereinander oder an gesonderten Tagen – gibt es auf der Website des Theaters. Für mehr Einblicke in die Hintergründe des Stücks lohnt sich außerdem ein Blick ins Programmheft.