Filmkritik
Chaos Walking
Was wäre, wenn jeder Gedanke, jede Vorstellung, jede Idee eines Menschen für alle in seiner Umgebung sichtbar wären? Im SciFi-Abenteuer Chaos Walking ist genau das die Realität – allerdings nur die der Männer.
Alle wissen, was Todd Hewitt (Tom Holland) denkt – ganz gleich, worum es sich handelt. Die Gedanken des Jugendlichen sind visuell sichtbar und damit für jede Person zugänglich. Das ist das Schicksal aller Männer von New World, einem Planeten im Jahr 2257. In ihrer Kolonie ist die eigene Meinung genauso fremd wie Frauen, die bereits seit Jahren nicht mehr existieren. Entsprechend wird ihre gesamte Struktur in Frage gestellt, als Viola (Daisy Ridley) auf ihrem Planeten strandet – eine junge Frau, deren Gedanken nicht sichtbar sind.
Aber wie sieht sie überhaupt aus, diese Welt der Gedanken? Die Männer nennen sie „the noise“, das Geräusch, das immer da ist – laut und ungefiltert. Diese violette Sphäre, die um ihre Köpfe kreist, zeigt ihre Gedanken mal mit Wörtern, mal mit vollständigen Bildern. Das sorgt mitunter dafür, dass als Zuschauer:in manchmal gar nicht klar ist, was Realität und was gedacht ist. Die ideale Grundlage für unerwartete Ereignisse – und zugleich für Intrigen, denn manche der Männer wissen ihre Vorstellungskraft gezielt gegen Feinde einzusetzen.
Toxische Männlichkeit?
Wer der größte Feind der Männer tatsächlich ist, zeigt sich direkt bei Violas Ankunft. Frauen, deren Gedanken unsichtbar bleiben, gelten als unberechenbar und damit für viele als Bedrohung. Insbesondere, da die Kontrolle der eigenen Gedanken das Ziel jedes Mannes darstellt. Stark sein, keine Emotionen zeigen – all das prägt für gewöhnlich ihren Alltag. Dieses klassische Rollenmuster wird durch Viola außer Kraft gesetzt: sie, die unabhängige Frau, die sich zu wehren weiß – und Todd, der sie eigentlich beschützen will, aber bereits mit den eigenen Gefühlen an seine Grenzen kommt. Dabei ist ihre Beziehung zueinander erfrischend frei von Klischees. Dennoch bleibt die Handlung der Linie eines dystopischen Actionfilms treu: schnelle Szenenwechsel, viele Gefechte und eine apokalyptische Welt mit Wäldern statt Städten.
Trotzdem gelingt es Regisseur Doug Liman, dem Film an den richtigen Stellen eine humorvolle Note zu geben. Immer wieder gibt Todd unangenehme oder gar peinliche seiner Gedanken preis, die er wohl lieber für sich behalten hätte. Die Handlung wird damit an den richtigen Momenten aufgelockert, ohne ihre Ernsthaftigkeit vollständig aufzugeben. Als Zuschauer:in fällt es damit leicht, sich in Todd hineinzuversetzen: wer hat nicht schon einmal darüber nachgedacht, wie unpassend die eigenen Gedanken manchmal sind? Gleichzeitig trifft die Besetzung ins Schwarze: Tom Holland ist Marvel-Fans nicht nur als Spiderman bekannt, sondern auch als derjenige, der regelmäßig aus Versehen neue Filme spoilert. Daisy Ridley, Protagonistin der neuesten Starwars-Filme, komplettiert schließlich das Aufgebot bekannter Nachwuchsschauspieler:innen.
Film versus Roman
Der Film basiert auf dem Roman The Knife of Never Letting Go, dem ersten Teil einer Trilogie von Patrick Ness. Es ist eine weitverbreitete These, dass Filme ihrer Romanvorlage oftmals unterlegen sind. In Chaos Walking scheint sich diese erneut zu bewahrheiten, denn vielversprechende Ansätze kommen zum Teil etwas kurz. Welchen Sinn bezweckt der Priester, der gleich zu Beginn des Films düstere Absichten vermuten lässt? Wie ist diese Welt der Gedanken entstanden und warum? So passiert es, dass sich manche der Handlungsstränge im Nichts verlieren. Das verleiht dem Film die notwendige Dynamik, lässt aber auch einige Fragen unbeantwortet. Dennoch kann Chaos Walking als SciFi-Abenteuer überzeugen. Actionreiche Szenen wechseln sich ab mit einem Hauch von Gesellschaftskritik – und der nötigen Portion Humor.
Chaos Walking ist ab dem 17. Juni im Kino zu sehen. Die Wiedereröffnung der deutschen Kinos ist voraussichtlich am 1. Juli.