Distant Socialization
Blinde Menschen in der Isolation
Menschen mit Sehbeeinträchtigungen gehören überwiegend zur Corona-Risikogruppe, da sich ein Großteil von ihnen im erhöhten Alter befindet und somit anfälliger für Vorerkrankungen sind. Für blinde Menschen stellt das Verlassen des Wohnortes in Zeiten von Quarantäne eine Herausforderung dar, für die es keine rechtlichen Richtlinien gibt. Wie erleben sie die aktuelle Situation?
“Corona-Einsamkeit“ & soziales Engagement
Die Kommunikation mit der Außenwelt ist für Blinde nicht gerade leichter geworden, da sich Menschen distanzierter in der Öffentlichkeit verhalten. Doch allgemein scheint das Verständnis und die Empathie für Personen mit Sehbehinderungen gestiegen zu sein. Der Landesgeschäftsführer für Verbands- und Sozialpolitik des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes, Steffen Erzgraber, erlebt dies als Betroffener selbst. Nicht nur Nachbarn, sondern auch flüchtige Kontakte bieten ihm aus eigener Initiative vermehrt ihre Hilfe an. Dabei geht es nicht nur um Hilfe beim Einkaufen oder Erledigungen im Alltag, sondern auch um kurze Gespräche und ehrliches Interesse.
Da Gruppentreffen und Kontakte mit Begleitpersonen derzeit ausfallen, fehlen oft Gesprächspartner. Aufgrund der „Corona-Einsamkeit“ vieler Betroffener hat der Bayerische Blinden- und Sehbehindertenbund zuletzt ein „Kummertelefon“ eingerichtet. Hier können betroffene Menschen mit Freiwilligen in Kontakt treten und auch einfach mal ein wenig plaudern. Viele Blinde leben alleine und eventuell benötigte Pfleger müssen ihre regelmäßigen Besuche derzeit einstellen.
Keine klaren Richtlinien
Blinde Menschen fühlen sich laut Erzgraber teils benachteiligt, da für den Rest der Bevölkerung einheitliche Regeln bezüglich der Ausgangssperren gelten. Spaziergänge stellen für den Großteil der Deutschen derzeit eine willkommene Abwechslung dar. Doch für Blinde und Sehbehinderte sind kurze Ausflüge schon länger elementare Bestandteile ihres Alltages.
Da derzeit sehr viele Menschen die Gehwege der Stadt bevölkern, ist es fast unmöglich alleine oder mit „sicherer Begleitung“ spazieren zu gehen. Auch die gewohnte Praxis, sich am Arm einzuhängen, um die Orientierung zu verbessern, hat sich geändert. Um mehr Distanz zu schaffen, hängen sich blinde Menschen nun an der Jacke ihrer Begleitung an. Das gemeinsame Joggen mithilfe einer gespannten Schnur fällt derzeit auch aus.
Obwohl blinden Personen der Aufenthalt in der Öffentlichkeit aufgrund der Ansteckungsgefahr größtenteils untersagt ist, ist die rechtliche Grundlage nicht eindeutig geklärt. Viele Polizeibeamte sind auch im Umgang mit Blinden nicht geschult. Ironisch erwähnt Erzgraber, dass man wohl eine erste Verwarnung der Polizei in Kauf nehmen müsse, falls man als Sehbeeinträchtigter spazieren gehen wolle. Auch klare Regelungen bezüglich einer Maskenpflicht seien wichtig, da ein blinder Mensch nicht direkt erkennen kann, wie weit entfernt eine Person in seinem Umkreis ist – oder ob sich diese ausreichend schützt.
Barrierefrei im Home-Office
Erzgraber sieht den Staat trotz vieler Verbesserungen auch in der Verantwortung, Unternehmen besser zu unterstützen und barrierefreies Arbeiten für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen zugänglicher zu machen. „In meinen ersten Arbeitsstellen musste ich noch mit veralteten Programmen umgehen, die absolut nicht ausgelegt für Personen mit Sehbehinderungen waren. Doch seitdem hat sich einiges getan.“ Die nötige Software für Büro-Arbeiten stammt oft von einzelnen großen Firmen, die keine zusätzlichen Tools für Sehbeeinträchtigte anbieten. Erzgraber schlägt vor, dass die Bundesregierung vermehrt darauf setzen könnte, eigene IT-Ressourcen zu nutzen und auch die Arbeit für betroffene Beamte freundlicher zu gestalten.
Die Situation auf dem Arbeitsmarkt könnte für sehbeeinträchtigte Bürger auch sehr negativ ausfallen. Menschen mit Behinderungen seien faktisch weniger beteiligt an wirtschaftlichen Aufschwüngen und erleben die Konsequenzen eines Abschwungs deutlicher. Stellenabbau und Kurzarbeit könne laut ihm ohne staatliche Intervention künftig Personen mit Sehbeeinträchtigungen härter treffen als den Rest der Bevölkerung.
„Distant Socialization“ anstatt „Social Distancing“
Erzgraber betont auch, dass es wichtig sei, den Abstand zu fremden Personen zu respektieren und sich trotzdem nicht persönlich abzuwenden. „Es geht hier nicht nur um Social Distancing, sondern auch um Distant Socialization”. Blinde Menschen sind es gewohnt, im persönlichen Kontakt ohne körperliche Nähe zu stehen. Und diese Art des distanzierten, jedoch respektvollen Umgangs findet derzeit vermehrt einen Weg in die Bevölkerung.