M94.5 ALBENREVIEW
Billy Talent – Crisis Of Faith
Es ist so weit: Mit Crisis Of Faith erblickt das sechste Billy Talent-Album das Licht der Welt. Eine schwere Geburt, aber das Warten hat sich gelohnt – denn das neue Werk vereint gekonnt Neues mit dem, was die Band groß gemacht hat.
Jetzt aber! Nach einer Odyssee durch die pandemiebedingten Hindernisse haben Billy Talent ihr neues Flaggschiff Crisis Of Faith endlich in den Zielhafen manövriert. Auf dem Weg dorthin wurde die Band von so mancher Glaubenskrise heimgesucht, die sich im Albentitel und in einigen der zehn neuen Tracks wiederfinden: Entsetzen und Wut über politische Missstände in den USA („Judged“, „Reactor“), Sorgen über den ignoranten Umgang der Menschheit mit dem Klimawandel („Reckless Paradise“) oder die Bewältigung von Trauerfällen im Umfeld der Band („The Wolf“, „For You“). Starker Seegang also, weshalb sich Sänger Ben Kowalewicz nach dem Aufwachen einfach mal „One Less Problem“ wünschen würde.
I wanna wake up to one less problem / and go to bed outta one less fear
aus den Lyrics des Songs “One Less Problem”
Songs aus fast vergessenen Prä-Covid-Zeiten
Die Corona-Pandemie hatte andere Pläne, und so verzögerten sich Songwriting, Studio-Sessions und letztlich auch die Fertigstellung des Albums um ein Vielfaches. Der Opener „Forgiveness I + II“ erschien immerhin schon Ende 2019 – also über zwei Jahre vor dem Release von Crisis Of Faith. Der zweigeteilte, fast siebenminütige Track überrascht bereits in seiner ersten Hälfte mit proggigen Riffs, die rhythmisch deutlich komplexer sind, als Billy Talent bislang je geklungen haben. Bei den bissigen Gitarren von Ian d’Sa und den markanten Bassläufen aus John Gallants Saiten, die Kowalewiczs Gesang begleiten, ist bis hierhin jedoch alles beim Alten.
Das ändert sich zur Hälfte des Songs schlagartig, und doch ist der Übergang von harten Riffs in den jazzigen, Synth-lastigen Part II mehr als geschmeidig. Klavierakkorde und sogar ein Saxofon verändern die Dynamik des Songs komplett, und auch textlich schlägt die Stimmung plötzlich von verzweifelter Orientierungslosigkeit („I scream at the stars / but nobody’s listening“) in innere Ruhe um („Wallowing away / comfort in the grace I’ve found“).
Nur zehn Tracks – aber sehr viel Abwechslung
Der Opener ist musikalisch zweifellos einer der besten Tracks in der langen Diskographie der Kanadier – und bleibt gleichzeitig auch der stärkste, weil auch überraschendste Song auf dem neuen Album. Experimentell ist der Sound aber auch im Titel „The Wolf“, dessen Protagonist dem langen Kampf gegen eine unheilbare Krankheit erliegt. Eine Rockballade, deren Lyrics mit ungewohnten Drums und noch ungewohnteren melancholischen Streicherparts untermalt werden. Ein Billy Talent Konzert mit Live-Orchester? Vor ein paar Jahren schien das noch undenkbarer als jetzt.
Ein weiteres Novum gefällig? Bitte schön: Ein Gast-Feature! Niemand geringeren als Rivers Cuomo konnte Weezer-Fan Kowalewicz davon überzeugen, ihm eine Strophe lang das Mikro aus der Hand zu nehmen. Auf „End Of Me (feat. Rivers Cuomo)“ harmonieren die beiden prächtig und beschwören starke Vibes aus den frühen 2000ern herauf. Getragen wird der Song außerdem von einem der zahlreichen Signature-Riffs von Ian d’Sa. Der Gitarrist zeigt sich auf Crisis Of Faith in Höchstform und verpasst auch der spaßigen Nummer „Hanging Out With All The Wrong People“ und dem Moshpit-Garanten „Reckless Paradise“ seinen charakteristischen Fingerabdruck.
Nicht nur Krise: Es bleibt Raum für Optimismus
Und damit hin zu dem, was nicht ganz so neu ist: Billy Talent bleiben auf der Mehrzahl der Songs doch sich selbst treu. Gutes Futter für Fans der früheren Werke sind zum Beispiel auch „Reactor“ – eine Referenz zu den weltweiten Black Lives Matter-Protesten – oder „I Beg To Differ (This Will Get Better)“, einer der wenigen Songs mit optimistischer Message: Bei allen Krisen, die die letzten Jahre bereitgehalten haben, wird es dennoch irgendwie wieder bergauf gehen.
There is an element of hope to everything that we talk about
Ben Kowalewicz im Interview zu “I Beg To Differ (This Will Get Better)”
Dabei werden musikalisch zwar nicht die kreativsten Ideen wach, aber das muss auch gar nicht sein. Denn die klassischen Billy Talent-Sounds tun dem Album gut und verleihen ihm etwas mehr innere Konsistenz. Der leider recht kurz geratene Langspieler verfolgt nämlich nicht unbedingt eine zusammenhängende, größere Idee und lässt damit trotz vieler guter Songs das gewisse Etwas vermissen, das manche seiner Vorgänger so besonders gemacht hat. Das ist hinsichtlich der Entstehungsgeschichte kein Wunder – schmälert aber ein wenig den Gesamteindruck.
Kein Opus magnum, aber: Rückkehr gelungen!
Gute Laune macht Crisis Of Faith dennoch. Und für Fans von Billy Talent ist es nach der langen Wartezeit auch einfach schön, neue Musik zu hören. Das Warten war es allemal wert – auch wenn Crisis Of Faith nicht mit im Rennen um den Titel des besten Langspielers der Band ist. Aber vielleicht gibt es ja noch mehr Ideen, die schon bald schneller den Weg aufs nächste Album finden, als es diesmal der Fall war.
Crisis Of Faith ist am 21.01.2022 über Warner Music erschienen.