Filmklassiker der Woche
Barry Lyndon
Laut dem Rolling Stone-Magazine ist er optisch “der schönste Film aller Zeiten”. Beleuchtet mit Kerzenlicht, Bild für Bild nach zeitgenössischen Gemälden gestaltet und mit authentischer Musik untermalt ist Großmeister Stanley Kubrick mit Barry Lyndon ein Gemälde, ein schwerer, samtener Wandteppich von einem Film gelungen. Ein harter Brocken, den man gesehen haben muss.
Kubrick erzählt mit Barry Lyndon die Geschichte von Redmond Barry, einem jungen irischen Landadeligen und dessen Odyssee quer durch den europäischen Kontinent und alle sozialen Schichten. Nach einem Duell mit einem britischen Offizier muss Redmond nach Dublin fliehen, wird überfallen, ist gezwungen sich der Armee anzuschließen und gerät so Mitten in den Siebenjährigen Krieg.
Ein technisches Meisterwerk
Stanley Kubrick ist bekannt für seinen Perfektionismus: Jede Einstellung ist von vorne bis hinten brillant durchkomponiert. Die Kostüme wurden zeitgenössischen Gemälden nachempfunden, die Standorte sind perfekt gewählt und einzelne Szenen wurden teilweise 70 mal gedreht, bis der Regisseur zufrieden war. Drückt man an einer beliebigen Stelle “Pause”, sieht man fast immer ein Bild, das quasi für sich alleine steht. Die spezielle Kameratechnik, mit der man bei Kerzenlicht filmen kann, und der fantastische Cast lassen den Zuschauer direkt in das 18. Jahrhundert blicken. Viele Szenen wirken gespenstisch authentisch und das Verhalten der Schauspieler unangenehm befremdlich, allein weil die damaligen Sitten mit allem höfischen Trallala so gut und so echt wie möglich dargestellt werden.
Der nicht-vorhandene Held
Viele Handlungsschritte und Wendungen später schafft es Redmond, die schöne Gräfin Lady Lyndon (Marisa Berenson) zu heiraten und findet sich in der Spitze der englischen Gesellschaft wieder. Ein Film, oder überhaupt jede Geschichte, über eine Person die so viel erreicht und erlebt, hat normalerweise einen Protagonisten, den man als Zuschauer bewundert oder zumindest als Anti-Held verstehen kann. Je höher Barry jedoch die gesellschaftliche Hierarchie hinauf steigt, desto gefühlskälter, brutaler und rücksichtsloser wird er. Barry gerät durch eigene Fehler in Situationen, die er zwar meistert – durch Glück oder Betrug an denjenigen, die seinem Vorteil im Weg stehen – doch gleichzeitig zeigt Barry immer wieder charakterlich gute Seiten, beweist Moral und ist ein fürsorglicher Vater. Letztendlich ist er aber kein Protagonist, mit dem man sich identifiziert – er ist einfach nur… ein Mensch. Ein Mensch, der es zeitweise schafft, in einer Epoche, in der das Leben eines Nicht-Adeligen nicht viel wert war, einen gesellschaftlichen Aufstieg zu vollziehen, der in dieser Form einfach nicht vorgesehen war.
Warum sollte ausgerechnet jemand wie Barry ein besonders interessanter oder guter Mensch sein? Kubrick lässt das Publikum mit dieser erzählerischen Hypothek drei Stunden lang eine Hauptfigur durch eine unglaublich schöne, komplexe, kalte und menschenfeindliche Welt begleiten, die Barry letztendlich zerstören wird. Typisch für Kubricks Nihilismus bleibt nach knapp 180 Minuten voll Blut, Alkohol und Tränen wenig “Moral der Geschichte” zu erzählen. Vielleicht nur so viel: Im 18. Jahrhundert kein Adeliger zu sein, hat wenig Spaß gemacht. Und alle, die damals lebten, sind heute tot. Und, wie es im Epilog heißt: “They are all equal now.”
Brace yourselves
Dieser Film braucht volle Aufmerksamkeit, Muße, Kraft und Offenheit für eine völlig fremde Welt. In der Mitte des Films wird auf schwarzem Bildschirm “Intermission” eingeblendet – die perfekte Gelegenheit für ein ordentliches Abendessen, einen Spaziergang oder eine Dusche. Tankt Energie auf, Ihr werdet sie für den Rest des Films brauchen!
Streamen könnt ihr Barry Lyndon auf Amazon.