Gegenwartsarchäologie
Auf Entdeckungsreise in der Gegenwart
Graffitis. Von dem einen werden sie als künstlerisches Werk und von dem anderen als Schmutz gesehen. Aber haben diese Graffitis für unsere Gesellschaft eigentlich eine größere Bedeutung? Ja, denn genau dieser Ort ist ein Schauplatz für die Archäologie der Gegenwart.
Von der Archäologie wissen wir, dass Jahrhunderte alte Fundstücke ausgegraben, anschließend interpretiert und in unsere Geschichte mit aufgenommen werden. Doch nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch heute gibt es viele Ereignisse, die für unsere Nachfahr:innen wichtig sein könnten. Genau damit beschäftigt sich auch die Archäologie der Gegenwart und einer ihrer Experten, Prof. Dr. Ulrich Müller.
Er hat die Sitzplätze mit Graffiti an der Universität Kiel von 1990 bis heute genauer unter die Lupe genommen und die Interaktionen mit seinen Studierenden in einem Projekt analysiert. Es handelte sich um rund 1800 Zeichen, Symbole und Texte. Neben der Art der Anbringung, dem Umfang und der Formen dieser Graffiti, haben sie die Anordnung im Raum und ihr Wirken an die Leser:innen, wie auch die verbundenen Handlungen dokumentiert und ausgewertet. Auffallend ist dabei, dass sich diese Graffitis an Vorbildern, Trends, Moden oder Normen orientieren. Zudem besitzen sie einen Aufforderungscharakter, welcher die Lesenden zur Kommunikation animiert.
„Da hat dann jemand mal geschrieben: Flo stinkt oder Flo ist doof. Und an einem anderen Tisch hat dann jemand geantwortet: Das stimmt nicht oder hat das Graffiti durchgestrichen.“
Ulrich Müller
Veränderungen in der Herangehensweise
Die Herangehensweise in der Archäologie unterscheidet sich in einigen Punkten zu der in der Gegenwart. Bisher waren die meisten Schauplätze der Archäologie in Ausgrabungsstätten. Nun finden wir diese aber in Vorlesungssälen, in Gärten oder auf Industriegeländen. Eben direkt vor unserer Nase. Ein weiterer Punkt der sich unterscheidet, ist der Umgang mit Quellen. Die fehlenden Quellen aus den vergangenen Jahrhunderten in Schrift oder Bild, werden nun durch eine extreme Überlieferungsdichte ersetzt, die stark von Bildern und Videos geprägt ist. Die Menge an Quellen wird daher zu einer Herausforderung, da die Diversität folglich ganz verschiedene Sichtweisen widerspiegeln. Zudem können in der archäologischen Forschungen auch Zeitzeug:innen mit einbezogen und interviewt werden.
Ein Blick in die Zukunft
Wie sich die Archäologie in der Zukunft entwickeln wird, kann sich Professor Müller schon gut vorstellen. Dabei blickt er vor allem auf das Thema Nachhaltigkeit, denn diese wird wieder neue Herausforderungen an Archäolog:innen stellen.
„Plastikstrohhalme und Einweggeschirr wird schrittweise verschwinden, das ist auch gut so, aber das wird dann durch Materialien ersetzt die sich selbst zersetzten – hoffentlich – und damit verschwindet dann plötzlich auch eine Information über das Verhalten der Leute. Man fragt sich: Moment mal, womit haben die Leute ihren Gin-Tonic getrunken oder ihren Caipirinha ohne Strohhalm, würden vielleicht Archäologen und Archäologinnen in 100 Jahren sagen und wer weiß was da für eine Interpretation rauskäme, das möchte ich mir gar nicht ausmalen.“
Ulrich Müller
Die Pandemie unter der Lupe
Und auch jetzt arbeiten Archäolog:innen an einem weiteren Projekt, das unser aller Leben (noch) beherrscht: Der Corona Pandemie. In diesem Fall werden archäologische Untersuchungen an gebrauchten Masken oder den Überresten einer Demonstration vollzogen. Professor Müller erklärt, dass sich z. B. die Art der benutzten Masken im Verlauf der Pandemie von Stoffmasken über OP-Masken bis hin zu FFP2-Masken verändert hat. Das findet jedoch kaum in anderen Quellen wie Fotos, Filmen oder auch schriftlichen Quellen Erwähnung und macht die Archäologie der Gegenwart für ihn so interessant. Deswegen wartet er weiter gespannt auf neue Ereignisse, die Teil seiner Forschung und für die Zukunft festgehalten werden können.