macht:wort
Antirassistische Selbstbezeichnungen – Interview mit Prof. Dr. Christoph Decker
Das neue IGTV-Format macht:wort erklärt Begriffe und deren Kontext, um den Wortschatz hin zu einer diskriminierungsfreien Sprache zu erweitern. In Folge 09 geht es um Antirassistische Selbstbezeichnungen. Warum ist es wichtig, sie auch als nicht betroffene Person zu verwenden? M94.5 gibt einen Überblick.
Prof. Dr. Christoph Decker. Professor für Amerikanistik an der LMU, erklärt im Gespräch mit M94.5:
„Eine Grundannahme in demokratischen Gesellschaften und Kulturen ist die Vorstellung der Gleichheit. Sie bedeutet, dass alle Menschen gleich behandelt werden sollten und dass sie auch alle gleich wertvoll sind. Diese Wertschätzung drückt sich im alltäglichen Umgang vor allem in der Sprache aus. Wie Personen angesprochen und benannt werden, aber auch wie sie durch Spitznamen oder Schimpfwörter herabgesetzt werden, ist dabei entscheidend.”
Zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung
“Der afroamerikanische Soziologe W.E.B. Du Bois führte um 1900 den Begriff „double consciousness“ ein. Damit meinte er, dass afroamerikanische Personen in den USA immer ein doppeltes Bewusstsein haben mussten. Sie betrachteten sich selbst als afroamerikanische Personen, mussten aber immer auch mitbedenken, wie sie durch die Augen der weißen Mehrheitsgesellschaft gesehen wurden. Diese Doppelperspektive ist für Minderheiten in den USA typisch. Die Selbstwahrnehmung geht auf die unmittelbare ethnische und kulturelle Gruppe zurück, während die Fremdwahrnehmung den Blick der Mehrheitsgesellschaft auf die Minderheit einschließt.”
Zentrales Leitmotiv: Black Lives Matter
“Für das demokratische Anliegen, als gleichwertig anerkannt zu werden, muss die afroamerikanische Minderheit jedoch größere Hürden überwinden. Sie kämpft gegen die historische Erfahrung der Sklaverei und gegen die aus dieser Zeit nachwirkenden Vorurteile. Der Slogan „Black Lives Matter“ formuliert eigentlich eine Selbstverständlichkeit, er ist jedoch zu einem zentralen Leitmotiv der letzten Jahre geworden. Damit hat er verdeutlicht, dass die Wertschätzung ihres Lebens für viele Mitglieder der black community eben nicht gilt und ihnen die Gleichwertigkeit abgesprochen wird.”
Besondere Erfahrungen benennen
“Die Selbstbezeichnung als People of Color kann daher einer Gruppierung, die bislang nicht gesehen oder wertgeschätzt wurde, eine Kontur verleihen. Für viele Protestbewegungen ist es ein erster Schritt, sich einen Namen zu geben, der das Eigene hervorhebt und Gleichgesinnte anspricht. Gleichzeitig liegen darin auch Risiken. Zum einen kann die Bezeichnung zu grob sein und unterschiedliche Interessen überdecken, zum anderen können politische Gegner sie aufgreifen und gegen die Minderheit verwenden, d.h. für neue rassistische Abwertungen umfunktionieren. Dennoch setzen sich im US-amerikanischen Kontext Begriffe immer stärker durch, die gesellschaftliche Gruppierungen und ihre besonderen Erfahrungen benennen.“
Setzen sich die amerikanischen Begriffe und Abkürzungen in Deutschland genauso gut durch?
Prof. Dr. Christoph Decker sagt dazu:
„Viele Trendbegriffe für kulturelle Gruppen, die in den USA entstanden, sind in der Vergangenheit in Deutschland übernommen worden, beispielsweise die Hippies, aber auch die Yuppies, Boomer, Millennials oder die Generation X. Für Protestbewegungen im engeren Sinn ist das nicht immer so einfach, da sie anders als bei Generationenbegriffen spezifischer auf die betroffenen Menschen bezogen sein müssen. Wenn in den USA der Begriff People of Color verwendet wird, muss die Geschichte der Sklaverei mitbedacht werden. Benutzt man den Begriff in Deutschland oder in Europa, lässt er sich zwar auf die Kolonialgeschichte beziehen, aber nicht auf die Spezifik des amerikanischen Systems der Sklaverei. Es kann daher sein, dass die Begriffe für politische Anliegen weniger wirksam sind, auch wenn ein grundsätzliches Gefühl der solidarischen Verbundenheit besteht.”
Begriffe adaptieren
Für Deutschland wäre daher zweierlei wichtig. Zum einen sollte grundsätzlich überlegt werden, wie vermieden wird, dass Sprache zur Abwertung oder Diskriminierung von Minderheiten bzw. Menschen im allgemeinen beiträgt. Zum anderen müssten Gruppen, die politische Anliegen verfolgen und sichtbarer werden wollen, eine Bezeichnung finden, die ihre eigenen Erfahrungen und Perspektiven bündelt. Dazu reicht es nicht, einen Begriff aus der amerikanischen Debatte zu übernehmen. Es sollte überlegt werden, ob er auf die Verhältnisse in Deutschland passt, wie er adaptiert werden müsste oder ob es einen besser passenden, eigenständigen Begriff gibt, der sich aus den Erfahrungen und Bedürfnissen der jeweiligen Gruppe selbst ergibt.“