Filmkritik
Anima – Die Kleider meines Vaters
Erst am Sterbebett ihres Vaters erfährt Uli Decker, dass ihr Papa ein Doppelleben geführt hat: und zwar heimlich in Frauenkleidern. In ihrem persönlichen, teilweise-animierten Dokumentarfilm arbeitet sie das Familiengeheimnis mit großer Leichtigkeit auf.
„Kleider für Frauen, Anzüge für Männer“ – selbst in Modegeschäften wird bestimmten Klamotten ein Geschlecht zugewiesen. Ein großes, gesellschaftliches Problem, dass sich aber nicht nur auf die eigene modische Ausdrucksform bezieht. Auf humorvolle Art und Weise bricht Uli Decker in ihrer Familiendokumentation mit dem typischen Schwarz-Weiß-Denken einer konservativen, toxischen Gesellschaft und zeigt auf, wie vielfältig die eigene Identität sein kann.
Gefangener seines „männlichen“ Selbst
Nach dem Tod ihres Vaters erbt Uli eine Kartonschachtel, die das geheime Dasein ihres Vaters offenbart. Schminke, Echthaarperücken und Stöckelschuhe sind Relikte seines heimlichen Ichs und zeigen den Zuschauer:innen das traurige Versteckspiel mit seiner geschlechtlichen Diversität auf. Tagsüber steckte er in der bayerischen Kleinstadt in seiner „männlichen“ Vaterrolle fest; nachts war er hingegen auf den Münchner Straßen als Frau im schwingenden Kleid unterwegs. Jede Sekunde war er Gefangener seines „männlichen“ Selbst und konnte seine innere Leidenschaft nur im Verborgenen ausleben. Als seine Ehefrau ein Spitzen-Dessous im Badezimmer fand, musste Ulis Vater das eiserne Schweigen brechen: das Nachthemd gehört keiner Geliebten, sondern tatsächlich ihm selbst.
Die graustufigen Rollenbilder der Erlösung
Während ihre Schwester zu Fasching Prinzessin sein wollte, entschied sich die kleine Uli eher für das Piratenkostüm mit Bart oder für der Gang als Papst. Schnell wird den Betrachter:innen der Dokumentation klar: Uli möchte nicht in Schubladen gesteckt werden! Strikte, gesellschaftliche Rollenbilder warf sie schnell über Bord. Sie wollte „Graustufen“ haben, in denen sie sich bewusst bewegen konnte: denn nicht nur Männer, sondern auch Frauen sollten laut ihr die beste Version ihres selbstbestimmten Ichs kreieren dürfen. Trotz dieses großen Wunsches geht sie im Laufe der gesamten Dokumentation mit einem gespaltenen Gefühl durchs Leben, ohne zu wissen, dass in den eigenen Reihen ein Verbündeter ist.
Ein wahres und ehrliches Portrait einer ungewöhnlichen Familie
In der Öffentlichkeit präsentieren sie sich als Aushängeschild einer tugendhaften, bürgerlichen Vorzeigefamilie. Niemand hätte vermutet, dass hinter den Mauern des ländlichen Häuschens der Decker ein größeres Geheimnis steckt. Bildmaterial sowie Filmaufnahmen im geliebten Zuhause des Vaters portraitieren ihn zwar – aber nicht sein wahres Ich. Fotos in Frauenklamotten gibt es von ihm keine. Die Zuschauer:innen können sich nur anhand von vorgelesenen Tagebucheinträgen von Ulis Vater sowie durch Erzählungen von ihrer Mutter, Schwester und Bekannten ein besseres Bild davon machen, wie die beiden Persönlichkeiten ihres Vaters als verschmolzenes Gesamtbild aussehen könnten. Dennoch erscheint Ulis Vater im Laufe des mehr als 90-minütigen Dokumentationsfilms nicht wirklich nahbarer. Er bleibt nicht nur für seine Tochter, sondern auch für das Publikum bis zum Filmende ein offenes Geheimnis. Ob diese Dokumentation eine Genderdebatte anheizen kann, ist daher fraglich. Collagenartige Animationsszenen mit musikalischen Untermalungen schaffen es jedoch, der feinfühligen Storyline Intimität zu verleihen. Dadurch kann man man dem roten Faden der Erzählung mit Leichtigkeit folgen und das Gefühlschaos der Familie Decker besser nachvollziehen. Das macht dieses ehrliche Familienportrait zu etwas ganz Besonderem!
Anima – Die Kleider meines Vaters ist seit dem 20. Oktober in den deutschen Kinos zu sehen.