Theaterkritik
All we ever wanted: Gemeinschaft, Robben und glänzende Utopien
“Proteus 2481″, womöglich unscharf übersetzt, aber wunderbar beglückend: der vierte Teil der Orestie von Thomas Köck an den Münchner Kammerspielen.
Nachdem der Theatertexter Thomas Köck 2021 das Auftragswerk eure paläste sind leer (all we ever wanted) für die Münchner Kammerspiele geschrieben hat, inszeniert er nun zum ersten Mal selbst an dem Theater in der Maximilianstraße. Zu diesem Anlass sucht sich Köck allerdings nicht nur ein paar Ensembleschauspieler:innen aus und schaltet ein, zwei Scheinwerfer an, nein er engagiert zunächst mal einen ganzen Chor. Immerhin handelt es sich auch nicht um irgendein Stück, sondern um den vierten und letzten Teil Aischylos Orestie.
DER VERLORENE VIERTE TEIL
Und jetzt eine kurze Lektion der Theatergeschichte: Die Orestie, ein aus dem alten Griechenland überliefertes Werk aus eigentlich vier Teilen, davon drei Tragödien und ein sogenanntes Satyrspiel. Dieser Vierteiler ist, obwohl steinalt, beinahe vollständig überliefert. Beinahe, denn vom vierten Stück, ausgerechnet dem humorvollen, sind gerade einmal eine Hand voll halber Sätze übrig. Natürlich ist das für den Theatertexter und neuerdings Regisseur des Abends kein Problem, es werden einfach ein paar Sachen ergänzt und ein Haufen imaginärer Robben in den Raum geworfen und schon steht überall:
Nun aber die staubigen Griechen mal zur Seite. Was wir an diesem bunten Abend erleben, ist die Behauptung einer Welt. Man könnte sagen, dass das halt eben Theater sei, die Behauptung, aber ich glaube, mit seinem Proteus zeigt Köck, was das wirklich bedeutet.
DIE SATYRN
„Wir sind die Satyrn, nichts ist real!“, ruft der Chor der Blindgänger, einer Münchner Theatergruppe im bunten Kostüm in der Therese-Giehse-Halle, leider nur der Seitenbühne, auf die nun, nach all den Kürzungen für den Kulturbetrieb auch mal andere Menschen als sonst dürfen, erklären einige der Sänger:innen gleich zu Beginn. Über sich selbst schreiben sie auf ihrer Website: „Die Blindgänger machen zeitgenössisches Theater. Sie füllen Nischen“, und das tun sie an diesem Abend auf jeden Fall. Teil dieser Gruppe sind Menschen mit und ohne Behinderung, sehend und nichtsehend. Dazu treten zwei mexikanische Schauspieler:innen auf und drei deutschsprachige Ensemblemitglieder der Münchner Kammerspiele.
An diesem Abend geht es um Unterdrückung. Wie durch Kolonialisierung ganze Kulturen unterworfen wurden, wie die europäische, „richtige“ Theaterkultur diesen Kulturen vorgesetzt wurde, wie Menschen mit eigenen Vorstellungen, eigenem Glauben und eigner Freiheit, versucht wurde, das Alles zu nehmen. „Wir müssen die ihres Irrglaubens berauben, und dann ihres Landes!“ Und so geht es auch auf der Robbeninsel.
„Immer wenn kein Krieg in Europa ist, muss eben in Übersee was erobert werden.“
Johanna Eiworth und Bernardo Arias Porras, der gleich zu Beginn zwischen all den unsichtbaren Robben als ganz klassischer Bote hervorkommt, moderieren durch den Abend. Sie sind Teil des Geschehens, aber auch zugleich Beobachter:innen und kommentieren, so wie auch der Chor, ganz typisch Antike.
WENN EIN FERNSEH-REQUISIT TEIL EINER ANTIKEN ADAPTION WIRD
Die Bühne besteht aus einem recht sinnlos erhöhten Absatz, Musikinstrumenten, ein bisschen Krimskram und einer zotteligen Bank. Schön ist, dass es hier nicht plötzlich realistisch wird, aber besonders interessant oder dramaturgisch schlüssig ist die Bühne nicht.
Genau so geht es mit den Kostümen weiter. Obwohl die Kleidung an sich aufwendig und farbenfroh ist, einen wirklichen Sinn scheint sie auch nicht zu haben. Und als später Teile von Samuel Kochs Kostüm von einem Auftritt in der Fernsehsendung „The Masked Singer“ zu einem Kostüm ergänzt werden, sind wir wirklich komplett weg von einem Zusammenhang der Geschichte und der bildlichen Darstellung.
Recht einfach gebaut erscheint mir auch der noch irgendwie untergebrachte Seitenhieb auf alle Männer, die ja erstmal einen hoch kriegen müssen, um sich fortpflanzen zu können. Da beginnt der Abend sich stetig von der herrlichen Absurdität zu verabschieden und einfach frei Meinungen herauszuschleudern. Dadurch verliert die wahrgewordene, glänzende Utopie der Gemeinschaft und Inklusion an Relevanz.
Zum Lichtdesign lässt sich sagen, dass durch indirekte Beleuchtung und viele gespiegelte Lichter eine wärmende Stimmung erzeugt wird. Vor allem in Zusammenspiel mit dem Chor und dem immer Mitschwingenden Bewusstsein über das Nicht-Sehen einiger Darsteller:innen wirkt diese Indirektheit sehr bewusst gesetzt.
KOPFÜBER
Der endgültige Abgesang auf das Theater folgt schlussendlich, als Koch in einem Gyroskop, also einem sich drehenden Jahrmarkt-haften Gestell kopfüber auftritt (oder auf-dreht) und davon spricht, wie lustig oder absurd es ist, mehrere tausend Euro dafür auszugeben, dass jemand in einem Gyroskop hängt.
Sucht man mal im Internet nach den Begriffen „Gyroskop“ „Groß“ und „Kaufen“, so findet man ominöse Websiten und Preise mit vier und fünf Stellen vor dem Komma. Toll ist, die vorgeschlagene Frage unter diesen Websites: „Was bringt ein Gyroskop?“ Bei Köck allerdings leuchtet es mir sofort ein: Eigentlich garnichts, und das ist auch gut so. Es geht um Alles und Nichts, es spielen Alle und niemand so richtig, Rollen sind fluide, Ordnung nicht relevant. Proteus 2481 ist ein tolles Stück über das, was wirklich wichtig ist, über die Antike, über Gemeinsamkeiten, über Grenzen, über-laden.
Zwischen all den nicht sichtbaren Robben funkelt heimlich das Glück des Theaters, die Freude darüber, einfach zu spielen und die Freude des Publikums darüber, all das sehen zu dürfen.
Zum aktuellen Spielplan der Münchner Kammerspiele gelangt ihr hier. “Proteus 2481” wird weiterhin in der Spielzeit 24/25 gespielt. Auf der Website sind bestimmte Ermäßigungsaktionen für Studierende gekennzeichnet. Wo es sonst überall Studi-Ermäßigungen bei Theatern gibt, könnt ihr hier nachlesen.