
Serienkritik
Adolescence auf Netflix: Wenn eine Serie uns zwingt, hinzusehen
Ein Jugendlicher landet in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, eine Mitschülerin ermordet zu haben. Die Mini-Serie Adolescence auf Netflix begleitet ihn in den Tagen danach – in radikalem One-Shot, ohne Schnitte, ohne Ausweg. Die Serie ist durch die Decke gegangen, heiß diskutiert wegen Themen wie Radikalisierung, Internet und Incelkultur. Doch wer genau hinsieht, merkt schnell: Es geht um mehr. Um eine Gesellschaft, die Jungen auf gefährliche Weise formt – durch emotionale Kälte, Leistungsdruck und patriarchale Ideale, an denen sie scheitern müssen. Eine Serienkritik von Sebastian Huber:
Ein radikaler One-Shot – ohne Pause, ohne Ausweg
Adolescence ist eine Serie, die nicht einfach erzählt, sondern zwingt. Nicht nur durch ihre Handlung, sondern vor allem durch ihre Form. Jede Folge ist ein One-Shot. Keine Schnitte. Keine Atempause. Aber das ist hier kein selbstverliebter Inszenierungstrick, für den sich die Macher Jack Thorne und Stephen Graham entschieden haben. Der One-Shot wirkt wie eine Umarmung, aus der man sich nicht lösen kann. Und genau darum geht’s: Nicht weggucken. Kein Entkommen. Für die Protagonist:innen nicht – und für uns Zuschauer:innen auch nicht.
In einer Welt, in der wir jede unangenehme Situation mit einem Wisch übers Display beenden könnten, ist das ein radikaler Gegenentwurf. Diese Serie zwingt zur Konfrontation. Mit Momenten, die wehtun, sich ziehen, sich festkrallen. Es ist fast körperlich unangenehm, wie nah wir dran sind, wenn ein Junge zum Täter eines Femizides wird – und gleichzeitig zum Spiegel einer Gesellschaft, die ihn genau dahin gedrängt hat.
Emotionale Kälte, Leistungsdruck, Machtspiele: Die Prägung junger Männer
Viel wird aktuell darüber diskutiert, ob Adolescence eine Serie über Radikalisierung im Kinderzimmer ist. Über Handys. Über Incels. Und ja – das ist sie auch. Aber das greift zu kurz. Es geht nicht um Handy-Verbote an Schulen oder darum, TikTok den Stecker zu ziehen. Die Serie fragt viel tiefer: Welche Strukturen schaffen eigentlich erst die Räume, in denen junge Männer für Radikalisierung zugänglich sind?
Da ist das Elternhaus: Der Vater ist kein Schläger, kein offenes Monster – aber emotional leer, manchmal aggressiv, kontrollierend. Die Mutter? Passt sich an, weicht aus, glättet, unterwirft sich, damit es „ruhig bleibt“. Eine Dynamik, die dem Sohn subtil ein System einprägt: Der Mann hat die Kontrolle. Nicht durch Fürsorge, sondern durch Angst.
Da ist die Schule: Leistungsdruck, Konkurrenz, keine Solidarität. Eine Ellenbogengesellschaft, in der du als junger Mann entweder „Alpha“ bist – oder niemand.
Besonders deutlich wird das in einer Szene aus Folge 2, die sich tief einbrennt: Ein Mädchen verprügelt einen Jungen – körperlich, brutal. Und was passiert danach? Ein anderer Junge verspottet das Opfer sofort als Schwächling, und die ganze Klasse, inklusive der Mädchen, lacht mit. Kein Mitleid, keine Empathie – nur Häme. Die eigentliche Gewalt ist vorbei, aber was danach kommt, trifft vielleicht noch härter. Die Botschaft ist klar: Wer sich nicht durchsetzt, wer keine Macht zeigt, hat keine Würde.
In solchen Momenten wird spürbar, wie früh sich ein toxisches Männlichkeitsideal in die Körper einschreibt. Wie sehr Scham, Ohnmacht und das Gefühl, wertlos zu sein, zur Grundlage dafür werden, sich später in Gewalt zu flüchten – gegen andere oder gegen sich selbst.
Fassade statt Gefühl: Wenn Männer am eigenen Ideal zerbrechen
Und genau an diesem toxischen Männerbild scheitern die Figuren der Serie. Sie wollen stark sein, cool, unberührbar. Aber das ist keine echte Stärke. Es ist eine Fassade. Und sie bröckelt.
Besonders eindrücklich wird das in Folge 3, im Gespräch zwischen dem jungen Täter Jamie und einer Psychologin. Er schreit. Er spuckt. Er will Macht. Doch sie reagiert nicht so, wie er es kennt. Und was passiert? Er bricht zusammen. Es ist ein erschütternder Moment, der zeigt: Diese Jungs haben gelernt, wie man dominiert – aber nicht, wie man fühlt. Wie man redet. Wie man Nähe zulässt.
Oder der Vater in Folge 4, der beim vermeintlich männlichsten aller Rituale – dem Baumarktbesuch – die Kontrolle verliert. Als er zurück zum Familienauto kommt, das zuvor mit Graffiti beschmiert wurde, schlägt das gekränkte Ego durch. Die Schmiererei ist ein Angriff auf seinen Status, auf seine Autorität, auf das Bild von Kontrolle, das er zu verkörpern versucht. Und anstatt die gerade gekaufte Farbe zu nutzen, um zu „reparieren“, schleudert er den Eimer voller Wut gegen das Auto. Es ist ein tragischer Moment: Ein Mann, der daran zerbricht, dass er seinem eigenen, überhöhten Ideal von Männlichkeit nicht gerecht wird. Ein Bild, das ihn auffrisst, weil es ihn gleichzeitig antreibt und überfordert.
Eine notwendige Zumutung
Und dann ist da das Schauspiel. Brutal gut. So nah, so echt, dass man vergisst, dass hier jemand spielt. Besonders die jungen Darsteller:innen tragen diese Serie mit einer Intensität, die fast schon unheimlich ist. Man spürt: Das hier ist keine Rolle, das ist ein Einblick.
Adolescence überzeugt nicht nur durch innovative Erzählweise und beeindruckende schauspielerische Leistung, sondern durch seine gesellschaftskritische Tiefe. Die Serie fordert den Zuschauer:Innen heraus, sich intensiv mit den Rollenbildern auseinanderzusetzen, die in Schule, Familie und Gesellschaft verankert sind, und den damit einhergehenden radikalen Entwicklungen. Als One Shot gelingt es ihr, den Blick für die Realität zu schärfen und gleichzeitig emotional zu berühren – ohne dabei einfache Lösungen wie Handyverbote als Allheilmittel vorzuschlagen. Vielmehr steht die Frage im Raum, wie ein gesellschaftlicher Wandel aussehen muss, um die toxischen Rahmenbedingungen zu überwinden, denen junge Männer ausgesetzt sind.
Adolescence ist unbequem. Unversöhnlich. Und gerade deshalb so notwendig. Keine Serie, die sich einfach weggucken lässt – und genau das ist ihre Stärke.