Filmklassiker der Woche

Waltz With Bashir

/ / Bild: © Sony Pictures

Kaum ein Film der 2000er Kino-Ära sprengt derart erfolgreich Genre-Grenzen wie Waltz With Bashir. Das Magnum Opus von Regisseur Ari Folman ist eine der ersten animierten Dokumentationen überhaupt und wahrlich schwierig auf nur ein einziges Genre herunterzubrechen: Irgendwo zwischen Kriegs-Drama, autobiographischer Doku und verwaschener Neo-Noir-Optik verläuft ein Pfad hinab in Folmans dunkelste Erinnerungen – menschlich, absurd und hypnotisch zugleich.

Alptraum als Einstiegsszene: In Waltz With Bashir werden die Protagonist*innen von ihrem Trauma verfolgt. © Sony Pictures

Plakativer könnte ein Einstieg in die Welt des Unterbewussten kaum sein: Waltz With Bashir beginnt mit einem Alptraum. Untermalt von unheilvollen Elektro-Beats jagt ein Rudel tollwütiger Hunde durch die Straßen von Tel Aviv, die Stadt ist trostlos und grau, allein der Himmel glüht in ungesundem Gelb. Jede einzelne Nacht, so erzählt Folmans alter Armee-Freund ihm eines Abends, verfolgen ihn diese Hunde mit ungebrochenem Blutdurst. Muss wohl mit dem Libanon-Krieg zusammenhängen, meint er, und mit der Mission, der er und Folman in den 80ern als israelische Soldat*innen angehörten. Folman muss überrascht feststellen: An diese Zeit seines Lebens kann er sich nicht explizit erinnern. Konfrontiert mit dem Rätsel eines Gedächtnisverlusts, den er jahrelang nicht bemerkt zu haben scheint, muss er seine Rolle im Massaker von Sabra und Shatila hinterfragen.

An diesem Abend erlebt Folman, über 20 Jahre nach seinem Kriegseinsatz, sein erstes Flashback. So triggert der Alptraum seines Freundes nicht nur Folmans Trauma, sondern auch die Suche nach seinen eigenen Erinnerungen: In Waltz With Bashir zeichnet der Regisseur Gespräche mit ehemaligen Kammerad*innen und deren surreale Kriegseindrücke nach – und erinnert sich so schließlich nach und nach selbst.

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Die volle Bandbreite visueller Durchschlagkraft: Trailer zu Waltz With Bashir.

Traumatherapie im Doku-Gewand

Die Arbeit an Waltz With Bashir dauerte vier Jahre – vier Jahre intensiver Therapie, wie Folman selbst sagt. Sein methodischer Blick in die eigene Vergangenheit hangelt sich – anfangs ratlos und beinahe naiv, schließlich immer getriebener – an Gesprächen entlang, die er tatsächlich geführt hat: mit zwei Psychiater*innen, darunter eine Trauma-Expertin, aber wichtiger noch mit Ex-Soldat*innen, die Folman damals im Krieg miterlebt haben. Sie schildern ihre Erinnerungen in häufig unfassbaren Details, und so ergibt sich zwar nach und nach ein schemenhafter Flickenteppich ihres kollektiven Gedächtnisses, gleichzeitig wird aber auch zunehmend deutlicher, wie unzuverlässig und grotesk menschliche Erinnerung ist.

Eben darin liegt die zentrale Stärke von Folmans Arbeit: Trotz aller dokumentarischer Ambition – die gezeigten Interviews sind allesamt entweder Originalaufnahmen der Gespräche oder von Schauspieler*innen nachgesprochene Transkripte – erhebt Waltz With Bashir nie den Anspruch, eine objektive Wahrheit erzählen zu wollen. Denn die, so erfährt Folman und durch ihn auch die Zuschauer*innen, existiert im Trauma-Kontext nun mal nicht. Die alte Wunde, die er zu Beginn des Films unwissentlich aufkratzt, klafft im Verlauf immer weiter auf und enthüllt Grässliches, dessen er sich aus gutem Grund nicht erinnern konnte. Zwischen Flashbacks, unheimlichen Traumszenarios und verzerrten Erinnerungen ist Waltz With Bashir dezidiert ein Anti-Kriegsfilm.

„Nachdem ich Waltz With Bashir aus der Perspektive des einfachen Soldaten gemacht habe, bin ich zum Schluss gekommen: Krieg ist so sinnlos, dass er unfassbar ist. Es ist überhaupt nicht so, wie man es in amerikanischen Filmen sieht – no glam, no glory. Nur sehr junge Männer, die nirgendwo hingehen, auf Leute schießen, die sie nicht kennen, beschossen werden von Leuten, die sie nicht kennen, dann nach Hause gehen und versuchen zu vergessen. Manchmal können sie das. Meistens können sie es nicht.“

Ari Folman, Regisseur

Markant, brutal und eindrucksvoll

Bei derart surrealen Kriegserlebnissen war Regisseur Ari Folman von Anfang an klar: Diese Dokumentation lässt sich nur mithilfe von Animation umsetzen. Hier sind die nüchternen Gesetze von Physik und Plausibilität außer Kraft gesetzt, und so steht es Folman frei, Bilder trostloser Realität mit unwirklichen Höhenflügen von Fantasie, Horror und Humor zu verschmelzen. Die visuellen Einflüsse sind dabei vielfältig: Mal erinnert der Stil an die kantigen, kontrastreichen Pinselstriche einer düsteren Graphic Novel, mal kommen bei den Kamerabewegungen und Texturen Videospiele in den Sinn, dann wieder bestechen die Bilder mit dem trostlosen Realismus eines Otto-Dix-Gemäldes (tatsächlich diente Dix als Stil-Vorbild). Selbst in den hier und da versprengten humoristischen Momenten, wenn Pastelltöne und ein zu blaues Mittelmeer an die Ästhetik von Miami Vice anknüpfen, bleibt Waltz With Bashir visuell stets so eindringlich wie die Flashbacks selbst, die der Film thematisiert: intensiv und nachhaltig bewegend.

Die Animationstechnik – eine Kombination aus Flash-Animation, klassischer Animation und 3D – wurde von Folmans Produktionsstudio (Bridgit Folman Film Gang) eigens für dieses Projekt entwickelt. Anstatt in Form von Rotoskop-Animation über vorhandenes Videomaterial zu malen, wurde auf Basis der Audioaufnahmen ein Storyboard kreiert – und 2300 individuelle Bilder illustriert, deren Kombination schließlich die Filmszenen formte. Im Ergebnis bilden selbst Wechsel zwischen Interviews, Kriegsszenen und Träumen eine graphische Einheit. Beinahe wirkt Waltz With Bashir wie eine einzige lange Halluzination: In einer bizarren Welt irgendwo zwischen zwei und drei Dimensionen sind Oberflächen, Konturen und Farben härter und schärfer als in der Realität – und damit umso angemessener für Folmans traumatische Erinnerungen.

Folmans wiederkehrendes Flashback vom Strand vor Beirut, ins gelbe Licht der israelischen Leuchtgeschosse gehüllt. © Sony Pictures

Zwischen jugendlichem Leichtsinn und Todesangst

Der Erzählton wird in Waltz With Bashir maßgeblich beeinflusst vom Animationsstil – und der Musik. Während der Film ein ernstes Thema behandelt, schreckt er nicht davor zurück, Humor in der Absurdität der Kriegssituation zu finden. Viele der Soldat*innen sind gerade einmal volljährig und erleben Teile ihres Einsatzes wie eine wilde Abschlussfahrt, haben keinerlei Erfahrung und verstricken sich in die gruseligsten und zugleich aberwitzigsten Situationen. Der Soundtrack, gespickt von diversen hebräisch- und englischsprachigen Popsongs, liefert hierbei häufig ironischen Kommentar. An anderen Stellen wiederum wabert Max Richters (u.a. Arrival, Taboo, Werk Ohne Autor) instrumenteller Soundtrack in die Untiefen von Folmans Unterbewusstsein, oder ein Stück klassischer Musik verklärt den Blick auf eine eigentlich brutale Konfrontation.

Der untenstehende Ausschnitt illustriert das Tempo dieser musikalisch eingefädelten Stimmungswechsel: Während der Kriegseinsatz aus Perspektive der jungen Soldat*innen hier beinahe unbeschwert wirkt – gestützt von der Ästhetik eines Achtziger-Musikvideos und den fröhlich-ruppigen Folk-Sounds im Hintergrund –, ist der Songtext derb, aggressiv und nationalistisch. Unmittelbar darauf folgt die ländliche Idylle eines Olivenhains, getragen von einem völlig sorglosen Bach-Concerto. Wenige Sekunden später liegt eine blutige Kinderleiche zwischen den Bäumen.

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Der Soundtrack als zusätzliche Erzählebene: Szene aus Waltz With Bashir.

Kriegsfilm ohne Held*innen

Waltz With Bashir ist Gedächtnisstudie, Traumatherapie und Zeitdokument zugleich. Folmans Perspektive ist bewusst subjektiv und lückenhaft – und eben dadurch so universell in der Darstellung von Kriegserfahrungen und Erinnerungsprozessen. Zwar bleibt der Film fokussiert auf die psychische Last auf Seiten der Eindringlinge und blendet die Schrecken der palästinensischen Flüchtlinge zum großen Teil aus (in einigen arabischen Ländern einschließlich dem Libanon ist er bis heute verboten). Dennoch bildet Waltz With Bashir, mithilfe seiner visionären Ästhetik, ein eindringliches Plädoyer gegen Krieg und gehört zu den stilistisch originellsten und dadurch einflussreichsten Kriegsfilmen der Moderne. Dafür erhielt Folman halbstündige Standing Ovations in Cannes und eine Oscar-Nominierung für den besten fremdsprachigen Film – als erster animierter Film überhaupt.

Der Erfolg ermöglichte Ari Folman die Umsetzung eines nächsten Herzensprojekts: Das Team von Waltz With Bashir adaptierte Anne Franks Tagebuch als Graphic Novel, der zugehörige Film Where Is Anne Frank soll im Laufe des Jahres erscheinen.

Waltz With Bashir ist als Stream auf Amazon verfügbar.