Leben in Konzentrationslagern
Musik hinter Stacheldraht und Gitter
Es ist eine der weniger bekannten Erzählungen über das Leben in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Und eine der bittersten, aber auch hoffnungsvollsten. In vielen Lagern gehörte Musik zum brutalen Alltag der Inhaftierten – ob im Geheimen oder von den Nazis durchgesetzt. Eine Geschichte von Melodien zwischen Hoffnung und Tod, hinter Stacheldraht und Gitter.
1938 im Konzentrationslager Dachau. Erst seit ein paar Tagen ist der Dichter Jura Soyfer dort inhaftiert. Zusammen mit dem Komponisten Herbert Zipper muss er einen Lastwagen mit Zementsäcken beladen, die außerhalb des Lagers gestapelt sind. Tagein, tagaus – für eine ganze Woche – gehen sie immer wieder durch das Tor mit dem Spruch „Arbeit macht frei“ – die pure Verhöhnung. Es ist der dritte oder vierte Tag, so erinnert sich Zipper Jahrzehnte später, als sich in den beiden etwas zu regen beginnt.
Die zwei Künstler entwickeln den Plan, ein Widerstandslied zu verfassen. Ein gefährliches Vorhaben: Droht es aufzufallen, wären Strafen bis zum Tod die Folge. Musik und Text entstehen deswegen im Kopf. Keine Notenblätter, keine Notizen schaffen Annahme für Verdacht. Der Plan gelingt. Das sogenannte “Dachaulied” bleibt erhalten. Heute erinnert es an den Mut der beiden Künstler – den Mut, Widerstand zu leisten angesichts von Grausamkeit und Tod. Das Dachaulied ist eines von vielen Beispielen, das an das vielfältige musikalische Leben in den nationalsozialistischen KZs erinnert.
In vielen Lagern gehörte Musik zum brutalen Alltag der Inhaftierten – ob im Geheimen oder von den Nazis durchgesetzt. Schon in den ersten Jahren entstand in den KZs musikalisches Leben. Jüdische Häftlinge sangen jüdische Lieder, politische Gefangene versuchten – wie beim Beispiel von Jura Soyfer und Herbert Zipper – mit Musik Widerstand zu leisten, Jazzmusiker spielten Jazzmusik. Die Häftlinge bedienten sich unterschiedlichster Vokal- und Instrumentalformen.
So schnell wie Musik entstehen konnte, konnte sie auch zerfallen
Doch das musikalische Leben zeichnete sich auch durch Vergänglichkeit und Verfall aus. Die Lagerverhältnisse waren entscheidend, inwieweit musiziert werden konnte und durfte. Der Kulturwissenschaftler Guido Fackler sagt:
Aber insgesamt hat das Musizieren in den Lagern immer eine Ausnahme bedeutet. Das Musizieren war immer abhängig vom Klima im Lager – gab es eine friedliche Situation, war mehr möglich als in Situationen, in der die SS bestimmte Strafen durchgeführt hat.
Guido Fackler gegenüber M94.5
Die Vielzahl entsprechender Belege für musikalische Aktivität darf nicht zur Annahme verleiten, dass dies eine Selbstverständlichkeit darstellte – Musik gehörte nur dann zum Alltag der Konzentrationslager, wenn sie von den Inhaftierten auf Befehl der ausgeübt wurde. Die Gründe, warum musiziert wurde, sind vielfältig. Sie unterscheiden sich von Lager zu Lager, von Zeit zu Zeit und von Person zu Person. Auf beiden Seiten – bei den Gefangenen und den Nazis – lag der Grund für das Musizieren woanders.
Das Mädchenorchester Auschwitz spielte für Josef Mengele
Die SS-Oberaufseherin Maria Mandl des KZ Auschwitz war brutal; nicht ohne Grund verlieh man ihr den Namen “Die Bestie”. Mandl hatte aber auch eine große Liebe zur Musik. Ihr Lieblingsstück: eine Arie aus Giacomo Puccinis “Madama Butterfly”. Die im Lager inhaftierte Sängerin Fania Fénelon wurde so manchmal mitten in der Nacht geweckt und gezwungen, ihr das Stück vorzusingen.
“Die Bestie” war maßgeblich daran beteiligt, das Mädchenorchester in Auschwitz zu errichten. Mitglieder waren weibliche Häftlinge. Durch die Aufnahme ins Orchester wurden sie vor der Vernichtung durch Arbeit und vor dem Tod in den Gaskammern bewahrt – Musik als Rettung. Das Mädchenorchester aus Auschwitz war bekannt für seine Privatkonzerte. Von überall her kamen Nazis, um der Musik der Mädchen und Frauen zu lauschen.
So auch der nationalsozialistische Mediziner Josef Mengele. Regelmäßig besuchte der Nazi-Arzt und Musikliebhaber das Konzentrationslager und ließ sich zur Unterhaltung vorspielen. Schubert und Schumann waren Lieblingskomponisten von Mengele, der wie viele andere SS-Offiziere gerne klassische Musik hörte. Anita Lasker-Wallfisch, eine Cellistin, musste Mengele Schumanns “Träumerei” vortragen. Das Klavierstück hörte er besonders gerne.
Musik in KZs zur Demütigung und Drangsalierung
Im Ghetto Theresienstadt, im heutigen Tschechien, wurde eine Kinderoper namens Brundibar 55-Mal gespielt. Die Uraufführung war am 23. September 1943 – als Teil des perfiden Plans der Nazis, das Lager als Muster-Ghetto mit einem lebendigen Kulturleben zu präsentieren. Der Holocaustüberlebende Zvi Cohen spielte damals Mundharmonika: “Die Deutschen haben herausgefunden: Wenn man den Juden Kultur liefert, dann sind sie ruhig”, erinnert er sich. “Die Kultur hielt die Menschen in Theresienstadt am Leben”. Der Komponist der Oper, Hans Krása, wurde ermordet, doch “Brundibar” wird noch heute gespielt.
Die Nazis wussten Musik für sich einzusetzen. Neben der Inszenierung und die Täuschung über die tatsächlichen Lagerverhältnisse nutzten die Nazis Häftlingsorchester und das Singen von Liedern, um die Lagerinsassen zu erniedrigen und zu quälen. Ein Überlebender erzählt so beispielsweise von einem besonders perfiden „Experiment“: Die Häftlinge mussten auch in Gaskammern Musik machen – bei geschlossener Tür. Die Wächter amüsierten sich darüber, dass die Musiker:innen nicht wussten, ob nach dem Konzert das Gas angeschaltet wird.
Obwohl die Mitglieder der Häftlingsorchester und -chöre von der SS-Lagerleitung gezwungen wurden, Deportationszüge musikalisch zu untermalen und die Teilnahme in den Musikgruppen oft alternativlos und erzwungen war, verbesserten sich für viele Musiker:innen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Sie bekamen größere Essensrationen und mussten weniger körperliche Arbeite als ihre Mitinsassen verrichten.
“Andere Frauen waren sehr böse, denn wir waren privilegiert”
Nicht allen gefiel diese Bevorzugung der Musiker:innen; der Neid der anderen Inhaftierten war groß. Die Sängerin Fania Fénelon erinnert sich.
Andere Frauen waren sehr böse, denn wir waren privilegiert – nicht wegen des Essens, aber wir hatten eine Baracke, einen Ofen, es war nicht kalt, wir waren gut angezogen, die übrigen Frauen liefen barfuß im Winter. Wir konnten uns jeden Tag duschen. Für mich war es das Größte, daß ich mich jeden Tag waschen konnte – die übrigen Frauen konnten sich manchmal drei Wochen nicht waschen. Wir hatten im Block eine Toilette. In den übrigen Blocks war es verboten, zur Toilette zu gehen – nur einmal am Tag durften die übrigen Frauen zur Toilette gehen.
Fania Fénelon im Interview mit der Zeit, 1980
Die Häftlinge waren unter menschenverachtenden Umständen gefangen. Sie litten unter den Schikanen und Drangsalierungen der SS-Mitglieder und hatten mit der ständigen Angst zu leben, umgebracht zu werden. Das gemeinsame Musizieren half vielen, das erfahrene Leid zu verarbeiten und der schrecklichen Realität zu entfliehen. Zudem spendete es Hoffnung auf eine Welt außerhalb von Mauer, Zaun und Stacheldraht.
Die uns erhaltenden Lieder zeigen drei Seiten des musikalischen Lebens in den KZs: die Grausamkeit des NS-Regimes, die Hoffnung der Inhaftierten und die Kraft der Musik.