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Buchkritik

Lichte Tage

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Van Goghs Sonnenblumen lassen beim Betrachten sicherlich an Licht, Zartheit und Zerbrechlichkeit denken. Das sind auch die Themen, die in Sarah Winmans Buch Lichte Tage auftauchen. Auf etwas mehr als zweihundert Seiten katapultiert uns die Autorin in ein Universum aus Trauer und Erinnerungen, das einen bittersüßen Geschmack im Mund hinterlässt. Sie lässt uns atemlos zurück, wie vor einem Gemälde.

Kunst als Inspiration

Der Roman beginnt in der Stadt Oxford, wo die schwangere Hausfrau Dora bei einer Lotterie für wohltätige Zwecke gewinnt. Anstatt sich für eine Flasche Whiskey zu entscheiden, wie es ihr Mann gewollt hätte, nimmt sie eine Reproduktion von Van Goghs Sonnenblumen mit nach Hause. Das Gemälde wird bald zu ihrem Lebensmodell, das ihr sowohl Hoffnung als auch Antworten gibt. 

@Klett-Cotta

Füfzehn Jahre alt war sie gewesen, und hatte sämtliche Widersprüche dieses Alters verkörpert. Doch als sie die Galerieräume betrat, war es, als wühlte ein Sturm ihre Seele auf, und sie wusste augenblicklich, dass hier das Leben war, das sie wollte: Freiheit. Perspektive. Schönheit. 

Sarah Winman: Lichte Tage, S.10.

Doch das Gemälde ist nicht nur eine Inspiration für Dora. Die Macht der Kunst ist gewaltig und ergreift auch die drei Protagonist:innen der Geschichte: Doras Sohn Ellis, seine Frau Annie und seinen Jugendfreund Michael. Die beschwörende Kraft der Kunst verbindet sie und bringt sowohl Freude als auch Leid. 

Licht oder Schatten?

In Lichte Tage wird immer wieder die Licht-Schatten-Metapher verwendet. Das graue, von Trauer und aufgezwungenen Lebensentscheidungen geprägte Leben wird mit Erinnerungen voller Licht und Hoffnung kontrastiert. Licht und Schatten symbolisieren das, was gewesen ist, und das, was hätte sein können. Die Sehnsucht nach Licht, an die das Sonnenblumenbild erinnert, führt zu einem Urlaub in Südfrankreich. Hier erkunden sich die Figuren selbst und entscheiden, wer sie sein wollen. 

@Klett-Cotta

Ich wurde wieder zu dem Jungen, der ich einmal gewesen war, und lebte die Fantasie einer längst vergessenen Jugend aus.

Sarah Winman: Lichte Tage, S.129.

Die Dualität ist der zweite Faden neben der Kunst, und sie schlägt ebenso schnell zu wie letztere. Die Figuren der Geschichte können daher auf den ersten Blick flach und unvollständig erscheinen. Aber wenn man genau hinschaut, kann man alle ihre Nuancen erkennen. 

Sensibilität und Feingefühl 

Die Kunst der Malerei besteht aus wenigen Worten: ein Blick genügt, um uns direkt ins Herz zu treffen. So ist es auch in Winmans Roman: Die Worte sind einfach, maßvoll, aber klar und stark. Mit unglaublicher Sensibilität gelingt es Winman, schwere Themen wie Trauer, Einsamkeit, erste sexuelle Erfahrungen und Aids zart und leicht zu machen. So entsteht auf dem Papier ein Porträt von Personen und Beschreibungen von Orten und Gefühlen, die wirklich echt wirken, fast wie ein Gemälde. Lichte Tage ist eine wahre künstlerische Meditation über Liebe, Verlust und Erlösung, die einem am Ende Tränen in die Augen treibt. 

Dieses Buch ist für alle Kunstliebhaber und Nicht-Kunstliebhaber geeignet. Es sollte in einem gemächlichen Tempo genossen werden, als ob man ein Gemälde bewundern würde. Der Roman Lichte Tage von Sarah Winman kann in gebundener Ausgabe über den Klett-Cotta Verlag für 22 Euro erworben werden.