Buchkritik
Wenn ein Algorithmus entscheidet, wie viel du Wert bist
Der Klimawandel hat große Teile der Erde zerstört. Milliarden von Menschen leben in Armut und kämpfen jeden Tag ums Überleben. Regierungen gibt es nicht mehr. Tech-Konzerne und ihre Algorithmen geben die Ordnung vor, nach der sich alle zu richten haben. Das ist das Setting des dystopischen Romans Equilon der Autorin Sarah Raich. Trotz der düsteren Ausgangssituation gibt die Geschichte Hoffnung und neue Perspektiven auf aktuelle Probleme.
Schöne Welt der Reichen – harte Realität der Armen
Seit ihrer Kindheit arbeitet die Protagonistin Jenna auf ein Ziel hin: Sie möchte nach New Valley und an dem alles entscheidenden Algorithmus Equilon mitarbeiten. Ob sie das schafft, entscheidet ein Punktescore, bei dem aber niemand weiß wie genau er funktioniert. Doch sie hat Erfolg: Ohne sich von ihrer Familie verabschieden zu können, darf sie ab sofort mit viel Geld bei den Reichen und Privilegierten, der so genannten eine Milliarde leben. Dort soll sie für den Konzern arbeiten, der den Algorithmus entwickelt hat. Equilon soll für Gerechtigkeit und eine bessere Zukunft sorgen. Im New Valley, der Wohngegend der einen Milliarde, ist alles schön gestaltet, sauber und gesteuert von Technik.
Der zweite Protagonist Dorian hat als Grenzländer ohne besondere technischen Kenntnisse oder Projekte keine großen Chancen seinen Punktescore aufzuwerten. Und damit keine Perspektiven. Eines Tages wird er mit einer Aufgabe betraut, die sein Leben auf den Kopf stellt. Er soll ein Mädchen zu einer Rebellengruppe im New Valley bringen, die gegen die Macht der Tech-Konzerne ankämpfen. Die Geschichten von Jenna und Dorian verweben sich nach und nach und sie blicken hinter die Fassade der einen Milliarde. Was dahinterliegt, erschüttert ihr bisheriges Wissen über die Welt und sie müssen sich entscheiden: Auf wessen Seite stehen sie?
Die Autorin Sarah Raich hat in Kreativagenturen und als Journalistin gearbeitet. Sie wuchs in Niedersachsen auf und lebte einige Jahre in Kalifornien. Ihr Debüt-Roman All that´s left ist 2022 erschienen und war für den Seraph der Phantastischen Akademie nominiert. Sie lebt mit ihrer Familie in München.
Copyright: Michael Beck
Plausible Szenarien, weniger plausible Charaktere
Das Setting des Romans greift aktuelle Themen rund um künstliche Intelligenz, Klimawandel und deren Folgen auf. Dabei verwebt die Autorin wissenschaftliche Fakten mit dem Einblick in eine mögliche Zukunft. Fließend Wasser und ausreichend Nahrung ist für viele Menschen in Deutschland eine Selbstverständlichkeit. Davon konnte Jenna bis zum Knacken des Scores nur träumen. Ihre Heimatstadt ist Old B, womit wahrscheinlich das ehemalige Berlin gemeint ist. Wirklich erklärt werden die Ortsnamen jedoch nicht. Dass Jenna als Grenzländerin im New Valley das erste Mal Luxus-Güter wie Schokolade oder Kaffee probiert, ist eines von vielen Beispielen wie sich die Welt in ein paar Jahrzehnten verändert haben könnte. Die plausiblen Gedanken-Spielereien machen die Klimakrise nahbar. Auch andere gesellschaftliche Probleme wie Rassismus und Transphobie finden ihren Platz in der Handlung, wenn auch hintergründiger.
Dabei fällt die Charakterentwicklung der Figuren etwas hinten runter. Sie ist vor allem bei Jenna oft holprig und nicht ganz nachvollziehbar. Sich mit den Hauptdarsteller:innen zu identifizieren, fällt vor allem am Anfang des Romans schwer. Dass die Handlung komplett im Präsens geschrieben ist, erschwert den Lesefluss an mancher Stelle. Eine Liebesbeziehung zwischen der Protagonistin und ihrem Chef ist voller klischeehafter Szenen und Dialoge, was eher an vorhersehbare Romantikfilme erinnert. Dennoch schaffen es manche Charaktere durch ihre Komplexität zu überzeugen, indem sie mit überraschenden Hintergrundgeschichten und Eigenschaften ausgestattet sind.
Tribute von Panem meets Schöne neue Welt
Das New Valley erinnert sehr an die Gegend der Privilegierten aus dem Roman Tribute von Panem, dem Kapitol. Auch durch die Aufteilung in Grenzgebiete lassen sich hier Parallelen zu der erfolgreichen Buchreihe ziehen. Vor allem der Bezug zu Technik und dem Einfluss bestimmter Institutionen erinnert stark an die Dystopie Schöne neue Welt des britischen Schriftstellers Aldous Huxley. Wer Dystopien mit einer düsteren und deshalb faszinierenden Zukunft mag, findet mit Equilon einen niedrigschwelligen Lesestoff. Trotz der manchmal unorganischen Charakter- und Handlungsentwicklungen, ist der Roman kurzweilig und voller kreativer und teilweise erschreckend plausibler Ideen.
Das Buch Equilon von Sarah Raich gibt es als Taschenbuch für 16,00 € und als E-Book für 12,99 € beim Verlag dtv.