M94.5 ALBENREVIEW

Rammstein – Zeit

/ / Bild: Universal Music GmbH

Selbst Rammstein sind nicht unsterblich. Auf Zeit befassen sie sich mit der eigenen Vergänglichkeit, üben in gewohnt kontroverser Manier Gesellschaftskritik – und sorgen musikalisch für Überraschungen.

Keine Tourneen, keine Konzerte: Selbst die wohl mächtigste, weil weltweit erfolgreichste und bekannteste Band Deutschlands hatte der zweijährigen Pandemie-Zwangspause nichts entgegenzusetzen. Anstatt aber untätig abzuwarten, sind Rammstein wieder ins Studio gegangen und haben ein neues Album aufgenommen. Zeit heißt das erste Werk seit 2019 – und mit der gleichnamigen Debüt-Single war klar, dass es sich keineswegs nur um Überreste des Vorgängeralbums handelt.

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Offizielles Musikvideo zum Titeltrack “Zeit”

Gewaltige Musikvideos: Hier liefern Rammstein wirklich immer ab

Grandios inszeniert von einer aufwändigen Videoproduktion setzt der Titeltrack mit einem sphärischen Klavier ein. „Zeit“ entwickelt sich zu einer kompositorisch und dramaturgisch hochspannenden Ballade, die vor allem eines thematisiert: Die Endlichkeit des Lebens.

„Doch die Zeit kennt kein Erbarmen / Schon ist der Moment vorbei“

aus den Lyrics von “Zeit”

„Zeit“ bleibt dabei nicht der einzige Song mit einem beeindruckenden Musikvideo: Auch die Singles „Zick Zack“ und „Angst“ erzählen durch ihre Verfilmungen eine viel größere Geschichte. „Zick Zack“ ist dabei der standesgemäße Aufreger eines jeden Rammstein-Albums, der es durch explizites und anstößiges Bildmaterial in die Schlagzeilen schaffen soll. Der Song ist aber nicht nur plump oder schockierend, sondern gibt eine herrliche Brüskierung der Schönheitschirurgie ab.

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Offizielles Musikvideo zu “Zick Zack”

Wo Text und Video amüsant und zielsicher alles durch den Kakao ziehen, was die moderne Gesellschaft an plastischer Chirurgie hervorgebracht hat, zeigt die musikalische Umsetzung allerdings, dass Rammstein es nicht mehr immer schaffen, sich neu zu erfinden. Die Riffs in „Zick Zack“ gab es schon zigmal, der Synthesizer klingt ziemlich billig.

Die Meister der tieferen Bedeutung

„Angst“ dagegen fährt ganz andere Kaliber auf. Der Song allein ist bereits ein absolutes Highlight: Vom wiederkehrenden martialischen Wikinger-Schrei („Huh!“) bis hin zum gutturalen, in die Glieder fahrenden Gesang, den Till Lindemann gegen Ende einsetzt. Die schauerliche Dramatik erinnert an „Puppe“, den stärksten Song des Vorgängeralbums.

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Offizielles Musikvideo zu “Angst”

Wenn beim Betrachten des Videos allerdings kleinbürgerliche Polohemd-Träger in ihren Vorgärten grillen, fein säuberlich ihren Rasen mähen und dann schwer bewaffnet Mauern hochziehen; wenn am Ende eine geflüchtete Mutter mit ihrem Kind von Stacheldraht umzäunt im Dunkeln kauert, rückt die eigentliche Interpretation des Textes unübersehbar in den Vordergrund: Der spießige und fremdenfeindliche Deutsche, der noch immer panische „Angst vorm schwarzen Mann“ hat und daher alles tut, um keine geflüchteten Menschen in sein Land zu lassen.

“Wenn die Kinder unerzogen / Schon der Vater hat gedroht / ‘Der schwarze Mann, er wird dich holen / Wenn du nicht folgst meinem Gebot’ / Und das glauben wir bis heute”

aus den Lyrics von “Angst”

Erst nach „Lügen“ haben wir von Rammstein wohl wirklich alles gehört

Musikalisches Neuland, das in Tracks wie „Giftig“ oder „Armee der Tristen“ noch in weiter Ferne liegt, steuert die Berliner Band erst später auf der Platte an. Da wäre zum Beispiel „Dicke Titten“: Der Song, als einzige Parodie oberflächlicher Schönheitsideale zu verstehen, beginnt bereits mit einem Medley aus bayerischer Blaskapelle und harten Industrial-Riffs. Lindemanns unfassbar platter Songtext, die engelhaften Himmelsklänge im Refrain und die Blasmusik ziehen den Track vollkommen ins Absurde.

Blasmusik und Industrial – schräger geht’s nicht? Falsch, denn dann startet mit Lügen der wohl überraschendste Song des Albums. Zunächst noch baut die Band um Lindemanns lyrischen Gesang eine wohlige Atmosphäre auf. Doch dann: „Lügen, alles Lügen“, schreit der Sänger die Stille nieder, ehe sich die friedliche Illusion durch einen Stimmverzerrer und wabernde Gitarrenstiche endgültig auflöst. Der Gesang wird ab diesem Moment fast durchgehend stark elektronisch verzerrt, was bei manchen Fans sauer aufstoßen könnte. Der neue Sound, den Rammstein dadurch erschaffen, ist allerdings einzigartig und mitreißend.

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Das Album Zeit auf Spotify hören

Nicht immer springt der Funke über

Einen ersten Haken hat das Album jedoch bereits beim ersten Durchhören: Auf Zeit klingen Rammstein zu oft genauso wie immer. Sich ähnelnde Stakkato-Riffs der Gitarristen oder wiederkehrende Synthesizer-Muster – wären da nicht die gewagten Experimente im hinteren Drittel des Albums, dann wäre Zeit musikalisch nicht übermäßig spannend. Zudem können Tracks wie „Meine Tränen“ oder „Schwarz“, ihr anfänglich sehr starkes Niveau nicht konstant halten. Mit „OK“ ist dann sogar ein Song dabei, der so plump mit Wortspielen um sich wirft, dass einem trotz des spannenden Instrumental-Breakdowns die Lust vergeht, ihn ein zweites Mal anzuhören.

Eine zeitlose Band, die noch immer abliefert

Zeit ist kein makelloses Album. Aber war das je der Anspruch, den wir an Rammstein gestellt haben? Eher nicht. Denn schon immer gab es auf ihren Alben Füllmaterial auf der einen – und epische Songs für die Ewigkeit auf der anderen Seite. Und so haben es Rammstein auch diesmal wieder geschafft, ihrer ohnehin schon legendären Diskografie echte Hochkaräter hinzuzufügen. Etwas, das man nach bald 30 Jahren Bandbestehen erst einmal schaffen muss. Damit ist Zeit trotz seiner Schwächen ein würdiges Rammstein-Album – und der Closer „Adieu“ legt nahe, dass es ihr letztes gewesen sein könnte. Sollten sie diese Drohung wahr machen: Rammstein, die Zeit mit dir war schön!