M94.5 ALBENREVIEW
RAUCHEN – NEIN
Auf ihrem mittlerweile zweiten Album, Nein, wagt sich die Band Rauchen ein Stück weit raus aus dem absolut kompromisslosen Hardcore-Sound der Vorgänger-Platten. Wütend bleiben die Hamburger aber dennoch.
GARTENZWERGISCHE WURZELN
Auf ihrem 2019 erschienenen Debüt Gartenzwerge unter die Erde machten die norddeutschen Musiker:innen bereits klar, aus welchem Holz sie geschnitzt sind. Schnörkellose Gitarrenriffs und grummelnde Basslines werden von einem treibenden Schlagzeug nach vorne gepeitscht, wo Sängerin Nadine sich aufbrausend die Seele aus dem Leib singt/schreit. Diese Energie ist auch auf dem neuen Werk noch deutlich spürbar – aber besser ausdifferenziert.
DIE DREIFALTIGKEIT
Auf ihrem aktuellen Album wollten Rauchen neue Wege gehen, die Scheuklappen ablegen und sich weiterentwickeln. Der unkonventionelle Ansatz beginnt schon beim Format des Langspielers. Wie ein Konzeptalbum ist Nein in drei Teile gegliedert, die wiederum einzelne EPs darstellen. In jeder dieser EPs finden sich vier Songs, die jeweils die Themen Feminismus, Polizeigewalt, Kapitalismus und Liebe abdecken. Diese drei Kapitel sind in sich abgeschlossene Einzelstücke, die aber auch als zusammengesetzte Collage funktionieren.
SCHREIEN ODER NICHT SCHREIEN?
Bei gutturalem Gesang, also Screamen oder Shouten, scheiden sich bekanntlich die Geister. Die einen schätzen den Sound für seine Aggressivität und Rohheit. Die anderen hingegen finden es eintönig und bemängeln, dass so die Lyrics nicht wirklich verständlich sind. Gerade beim Punk allerdings steht bekanntlich oft eine Message im Vordergrund, die durch klare Vocals besser transportiert werden kann. Auf dem neuen Album von Rauchen halten sich cleaner und verzerrter Gesang recht gut die Waage, sodass die Texte mehr im Fokus stehen. Wer allerdings glaubt, dass dadurch Einbußen an Energie und Wut gemacht wurden, der täuscht sich.
KLEINE GENRE-PÄCKCHEN
Die Aufteilung des Albums in drei einzelne EPs macht sich auch stilistisch bemerkbar. In dem ersten Vierer-Päckchen klingen Rauchen nach einer lupenreinen Postpunk-Band, der Gesang ist gut verständlich, der Bass hämmert fast schon im Stil von Genre-Größen wie Messer.
Darauf folgt eine Eruption nach bester Hardcore-Manier. Sängerin Nadine schreit, was das Zeug hält, unter die Instrumentierung mischen sich die fiependen Lärmgeräusche der Verstärker. Nach diesem kurzen Abstecher in deutlich härtere Gefilde wird zu guter Letzt wieder der Bogen zu dem etwas aufgeräumteren, abgeklärteren Sound der Opener gespannt.
WÜTEND, ABER DURCHDACHT
Die Aufteilung des Albums in drei Abschnitte hat dem Gesamtwerk eindeutig gutgetan. Durch die post-punkigen, cleaneren Passagen kann sich die Band neue Hörer:innen erschließen, denen weniger an Screamen, sondern mehr an gelungenen Texten liegt. Die Wut der Musiker:innen bahnt sich nicht ausschließlich durch heftige Klangkulissen den Weg ins Ohr, sondern auch mit Hilfe der anklagenden Lyrics. Durch das tobende Hardcore-Intermezzo in der Mitte des Albums werden aber genauso Fans der härteren Gangart vollends auf ihre Kosten kommen.
Nein ist am 03.12.2021 über Zeitstrafe erschienen.