Theaterkritik
Der Selbstmörder
Wieviel ist ein Leben wert, wenn es keine Leistung erbringt? Diese Frage ist eine von vielen, mit der sich das Stück Der Selbstmörder von Nikolai Erdmann beschäftigt, das aktuell im Münchner Volkstheater läuft. Die satirische Komödie baut Brücken zwischen ernsten Themen, einer überraschenden Komik und philosophischen Fragen.
*Triggerwarnung: Im folgenden Text geht es unter anderem um das Thema Tod und Selbstmord*
Semjon sitzt in seinem kleinen Zimmer und setzt sich eine gebastelte Krone auf. Sein Gesicht ist wie in Ekstase verzerrt, die Augen sind so weit verdreht, dass fast nur noch das Weiße zu sehen ist. In seiner Hand hält er einen Totenschädel und er spielt die bekannte Szene aus Shakespeares Hamlet nach. Sein oder nicht sein, diese Frage stellt sich auch Semjon. Er ist die Hauptfigur in der satirischen Komödie Der Selbstmörder des Autoren Nikolai Erdmann, die auf eine besondere Art und Weise mit dem Thema Tod und Arbeitslosigkeit umgeht.
DIE WAHL DES TODES
Semjon hat keine Arbeit, sondern beschäftigt sich lieber die meiste Zeit mit der Frage, wie er sich am wirkungsvollsten umbringen kann. Er will bedeutungsvoll sterben, mit Strategie. Am besten auch für eine gute Sache. Menschen, die Semjons angekündigten Selbstmord als Märtyrertod für ihre Herzensangelegenheit ausnutzen wollen, gibt es genug. Ob Doppelselbstmord zu ehren von Kleopatra oder ein Tod für die Kirche, viele wollen Semjon den Tod schmackhaft reden. Seine Freundin Mascha wiederum macht sich stetig Sorgen um ihn und versucht ihn mit den beiden Nachbar:innen Margarita und Alexander vom Freitod abzubringen.
WIDERSPRÜCHLICHE WERTE
Das Theaterstück kritisiert den gesellschaftlichen Umgang mit Arbeitslosigkeit. Arbeitet jemand nicht, trägt er nichts zur Gesellschaft bei und ist überflüssig. Die Frage, wie wertvoll ein Menschenleben ist und woran die Gesellschaft diesen vermeintlichen Wert misst, zieht sich in subtilen Tönen durch die Handlung. Trotz der düsteren Thematik ist das Stück heiter. Das in dunklen Farben gehaltene Bühnenbild und die zerrissenen und schrägen Kostüme der Darsteller:innen verstärken diesen Widerspruch noch zusätzlich. Der Schauplatz des Stückes verwandelt sich stetig, doch eins bleibt gleich: Ein kleiner geschlossener Raum als Rückzugsort für Semjon, aus dem das Publikum intime Einblicke in seine Gefühlswelt bekommt. Seine Mimik wird ganz groß über eine Kamera übertragen, was ihn den Zuschauer:innen besonders nahbar macht. Anspielungen auf andere literarische Werke und philosophische Theorien geben der Komödie einen intellektuellen Flair.
EIN OPULENTES BÜHNENBILD
Das Ensemble verpackt die Handlung in einem sehr komischen Schauspiel und bringt das Publikum zum Lachen und zum Reflektieren. Dadurch dass die Figuren kaum vorgestellt werden, sind die Handlung und manche Dialoge ein wenig verwirrend und nicht ganz nachvollziehbar. Zudem wirkt die kleine Bühne durch die Menge an Charakteren und dem gefüllten Bühnenbild manchmal überladen. Trotz des abrupten Endes, das die Zuschauenden etwas ratlos zurücklässt, ist das Stück auf seine eigene Art bewegend und besonders. Die sehr gute, musikalische Begleitung zweier Musikerinnen schaffen eine Atmosphäre, die manchmal zu den Szenen passt und manchmal wie im Widerspruch zu ihnen stehen, aber dennoch nicht Fehl am Platz ist. Es ist ein Spiegel für die ambivalente Beziehung von Semjon zu seinem Leben: Manchmal voller Begeisterung und dann wieder geprägt von einer Sehnsucht nach seinem Ende.
Der Selbstmörder von Claudia Bossard läuft noch bis zum 03. Januar 2022 im Münchner Volkstheater.