Theaterkritik

(R)Evolution – Eine Anleitung zum Überleben im 21. Jahrhundert

/ / Bild: Jean-Marc Turmes

Von Höhlenmenschen zu Klick-Jägern und Daten-Sammlern – und danach? Wie sieht die Zukunft des Homo Sapiens aus? Übel. Das vermuten zumindest Yael Ronen und Dimitrij Schaad in ihrem Stück (R)Evolution – Eine Anleitung zum Überleben im 21. Jahrhundert. Metropol-Chef Jochen Schölch hat die dystopische Dramödie nun in München auf die Bühne gebracht.

Handy-Ton aus, Flugmodus an, Licht im Saal aus, Licht auf der Bühne an. Es beginnt mit einer kurzen Ansprache: Das Metropoltheater will sein Publikum kurz mit den neuen Privatsphäre-Einstellungen und Nutzungsbedingungen des Hauses vertraut machen. In Kooperation mit Google und Amazon hat das Haus den neuen Service ARTech entwickelt, „um das verstaubte Medium Theater endlich ins 21. Jahrhundert zu führen“. Dafür seien Stühle im Saal jetzt mit neuen Glasfasersensoren ausgestattet und Kameras würden alle körperlichen und psychischen Reaktionen laufend messen. Alles zur Spielplan-Optimierung, versteht sich.

„Wer will das denn?“, fragt eine ältere Dame aus dem Publikum halblaut, und stellt damit die Grundfrage des Abends. Denn die Ansprache ist natürlich bereits Teil des Stücks. (R)Evolution entwirft ein unliebsames Zukunftsszenario, das so eigentlich niemand haben will: Im Jahr 2040 bestimmen Algorithmen unser Leben, während globale Temperaturen und Meeresspiegel steigen. Willkommen in der Zukunft, in der wir nie leben wollen werden.

Welche Nase darf’s denn sein?

Im Fokus der Handlung stehen unter anderem Lana (Vanessa Eckart) und René (Jakob Tögel), ein Paar, das gerade sein zweites Kind planen möchte. Geplant wird aber nicht nur der Geburtstermin, sondern Aussehen und Fähigkeiten gleich mit. Das Survivor-Paket – genetisches Gerüstet-Sein angesichts der Klimakatastrophe – kostet allerdings nochmal extra. Ständige Beraterin an Lanas und Renés Seite ist die KI Alekto, die alle Wünsche und Bedürfnisse ihrer Nutzer:innen genau kennt. Und steuert.

Nicht von schlechten Eltern: Während Lana (Vanessa Eckart, z.v.l.) Komplimente für ihre “guten Gene” bekommt, müssen die ihres Manns René für den Nachwuchs optimiert werden. Kein Problem für Dr. Stefan Frank (Hubert Schedlbauer, e.v.r.).
Foto: Jean-Marc Turmes

Alekto – klingt als hätten die Autor:innen da nur nach einer Abwandlung für Amazons Alexa gesucht? Nein, dieser Name ist der griechischen Mythologie entlehnt: Alekto (alt.gr.: “die Unaufhörliche”) ist eine der Erinnyen, also der Rachegöttinnen, die Menschen verfolgen und in den Wahnsinn treiben. Und so erscheint sie auch in (R)Evolution: omnipräsent, allwissend, gottgleich. Darstellerin Katharina Müller-Ellmau – in einen weißen Overall gehüllt und mit undurchdringlicher Mine – spielt die KI mit großer Wandelbarkeit und eiskaltem Kalkül. Dass sie die absolute Kontrolle über ihre Nutzer:innen ausübt, ist kein Geheimnis. Im Gegenteil: Ist doch praktisch! Nicht mehr grübeln, was man essen möchte – Alekto hat bestellt, bevor der Magen überhaupt knurrt.

Gesellschaftsdiagnosen zum Gruseln

Dieses Szenario könnte für eine Dystopie schon genug sein. Ronen (Hausautorin an den Lilienthal-Kammerspielen) und Schaad (Hauptdarsteller in Die Känguru-Chroniken) denken aber auch die Klimakrise mit: Über 1 Mio. Mitteleuropäer:innen sind wegen Überflutungen auf der Flucht. Und Wohnraum, Arbeitsplätze und Lebensmittel stehen nur noch den Privilegierten zur Verfügung. So ähnlich schon mal gelesen? Tatsache: Inspiriert ist die Handlung von den Gesellschaftsdiagnosen des israelischen Historikers Yuval Noah Harari (Eine kurze Geschichte der Menschheit, Homo Deus, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert).

Jedoch nicht nur aus Hararis Texten sind Gesellschaftsprognosen à la (R)Evolution bekannt. Die Angst vor dystopischen Szenarien ist mindestens genauso alt wie Dystopien selbst. Und fast genauso lange kennen wir auch schon solche Warnungen vor dystopischen Entwicklungen. Vieles in (R)Evolution kommt den Zuschauenden dann nämlich doch etwas bekannt vor aus Klassikern wie Orwells 1984, Atwoods Der Bericht der Magd oder aus neueren Werken wie der BBC-Serie Black Mirror oder Marc-Uwe Klings Qualityland.

Alles schon mal dagewesen?

Zum Teil sind diese Zitate ganz humorvoll aufgezogen: Der Gen-Optimierungs-Doc, bei dem Lana und René ihr Baby in Auftrag geben möchten, heißt Dr. Stefan Frank, wie „der Arzt, dem die Frauen vertrauen“ aus der gleichnamigen RTL-Trash-Serie. Bei seinem Ehemann Ricky Martin dürfte die Namensähnlichkeit zum Latin-Popstar wohl auch kein Zufall sein. Aber irgendwo verliert das Zitat dann doch seinen Witz, wenn z.B. eine Pointe bis aufs Wort aus der BBC-Zukunftsserie Years and Years übernommen wird. Da können die sechs Metropol-Darsteller:innen noch so fesselnd spielen, das Bühnenbild von Thomas Flach noch so schlicht-visionär sein – von einer aktuellen Inszenierung dieses Genres wünscht man sich dann doch etwas mehr Novum und Überraschungen.

Sex im Second Life: Dr. Stefan Frank (Hubert Schedlbauer, links) und sein Mann Ricky Martin (Marc-Philipp Kochendörfer, rechts) kurz nach dem Cyber-Sex. Ohne VR-Brille läuft bei den beiden nichts mehr. Haben wir das nicht schon mal in Black Mirror gesehen?
Foto: Jean-Marc Turmes

Und außerdem: Digitale Sprachassistenten:innen, VR-Brillen, Chat-Simulationen – alles keine Hirngespinste, alles schon existent, vielleicht nur noch nicht so ganz ausgereift wie im angenommenen Alltag im Jahr 2040. Eine Frage stellt sich darum schon ein bisschen: Bereitet diese Handlung einer heutigen Generation Y oder Z, die mit all diesen Technologien mitgewachsen ist, überhaupt das mulmige Gefühl, das Ronens und Schaads Stück heraufbeschwören will? Oder ist das nicht eher ein Schauermärchen für die Generation Boomer?

Als am Ende des Abends das Licht im Theater wieder angeht, geht im Saal der unbewusste Griff dann trotz der erfolgten Warnungen ans Handy. Erstmal den Flugmodus wieder deaktivieren. Ohne MVG-App oder GoogleMaps finden wir schließlich nicht nach Hause. Ja, ja, wir sind mit den Cookies einverstanden. Kann dieses Pop-Up-Fenster mal weggehen? Dann noch schnell alle verpassten Nachrichten checken. Und dann vielleicht noch dem Metropoltheater bei Social Media folgen. Doch immerhin: Dank diesem Theaterabend schwingt bei alledem zumindest ein leicht mulmiges Gefühl mit.

(R)Evolution in der Inszenierung von Jochen Schölch hatte am 04.07.21 Premiere im Freimanner Metropoltheater und ist noch den ganzen Juli über zu sehen. Tickets gibt es aktuell nur via Warteliste über die Webseite des Theaters. Einblicke in den Probenprozess des Stücks gewährt der Podcast Die Metropoliten – u.a. mit (R)Evolution-Ensemblemitgliedern Katharina Müller-Elmau, Vanessa Eckart und Marc-Philipp Kochendörfer.