M94.5 Theaterkritik
Spielen in Zeiten der Cholera
Vor mehr als einem halben Jahrhundert hat Camus uns den Roman der Stunde geschrieben. Während man vorher Literatur noch als Fiktion oder allegorisch lesen musste, kann sich jeder, der Die Pest heutzutage in die Hand nimmt, Passagen anstreichen, die er wortwörtlich auf sich und sein Leben beziehen kann. Nun zeigt die deutsche Theaterlandschaft ebenfalls Interesse an dem Stoff. Zwei neue Inszenierungen zeigen, dass man dem Stoff immer noch eine interpretatorische Richtung geben kann.
Die Geschichte von Camus Roman ist folgende: In einer kleinen Stadt in Algerien bricht die Pest aus, woraufhin die Stadt evakuiert werden muss. Keiner darf mehr rein oder raus, Bewohner*innen und Nicht-Bewohner*innen sind gleichermaßen eingesperrt und hilflos während immer mehr und mehr Menschen sterben. Der Roman ist bereits 73 Jahre alt ist und sein Autor ist vor 60 Jahren gestorben. Dennoch wirkt das Werk aktueller denn je. Recht bald nach Ausbruch der Pandemie kletterte der Roman die Bestsellerlisten Europas hinauf.
Und auch die Theater interessieren sich für den Stoff. Gerade diese Kulturinstitutionen sind ja bekannter Weise besonders hart vom um sich greifenden Virus gestraft und sich mit dieser Situation von ihrer Perspektive auseinanderzusetzen lohnt sich daher gerade noch einmal mehr. Zwei sehenswerte Interpretationen stammen vom Theater Oberhausen und vom Deutschen Theater in Berlin.
Von den Möglichkeiten des Bildschirms
Die Bearbeitung des Theaters Oberhausen, unter der Leitung von Bernd Zander, ist ähnlich einer Fernsehserie aufgebaut. In fünf Episoden wird die Geschichte des Romans nacherzählt. Entweder in darstellenden Szenen oder indem Passagen des Romans vorgetragen werden. Dabei sind die Darsteller*innen oder Erzähler*innen nie zusammen in einem Raum: Stattdessen werden ihre Abbilder mithilfe eines Lichtprojektors in leere Räume und Straßen geworfen. Durch geschicktes In-Szene-setzen interagieren dann die Schauspieler*innen, die ihre Parts alle separat zu Hause aufgenommen haben. Als Erzähler*innen/Erzählende werden einige Leute eingesetzt, die sonst hinter den Kulissen arbeiten.
Hier wird aus der Not eine Tugend gemacht. Die Einschränkung, dass nicht vor einem live Publikum auf einer Bühne gespielt werden darf, wird soweit es geht ausgenutzt. Man merkt, dass alle beteiligten Spaß an dem neuen Medium haben und sich spielerisch und kreativ mit ihm auseinandersetzen. Probleme wie „Wie setze ich einen leeren Raum oder eine leere Gasse klug in Szene?“ erscheinen als Sprungbretter zu neuen Ideen. Gleichzeitig setzt sich das Projekt mit dem Zeitgeist und der Isolation auseinander.
Zwischen Kamera und Darsteller
Anstatt wie das Theater Oberhausen nach Schließung etwas ganz Neues aus dem Boden stampfen zu müssen, konnte man beim Deutschen Theater in Berlin auf eine Version zurückgreifen, die erst im November Premiere gefeiert hatte. Regie führten András Dömötör und Enikö Deés, einziger Darsteller ist Božidar Kocevski. Dieser rezitiert den Roman in gekürzter und leicht geänderter Form. In der Corona-Version spricht er den Text in eine Kamera, während er durch das leere Theater läuft.
Obwohl es nur ein Schauspieler den Text vorträgt kommt man nicht darum herum zuzugeben wie intensiv die Darstellung ist. Man merkt wirklich, dass sich Kocevski nicht erst seit Corona mit dem Stoff beschäftigt hat, sondern schon länger. Zusammen mit der Kamera erzeugt er so einen dichten Vortrag des Textes, dass man kaum wegschauen kann.
Sehnsucht nach Theater
Die Theater standen während Corona vor einem Dilemma: Man hat da diesen wunderbaren Stoff von Camus in den Händen kann ihn aber partout nicht auf die Bühne bringen. Jedoch haben die beiden hier vorgestellten Produktionen sich wirklich etwas einfallen lassen, damit es trotzdem zu einer interessanten Umsetzung kommt. Sowohl die Version des Theaters Oberhausen als auch die des Deutschen Theaters in Berlin sind – so unterschiedlich sie auch sind – beide sehenswert und haben die Sehnsucht nach Theater etwas erträglicher gemacht.
Inzwischen sind alle Episoden des Projektes vom Theater Oberhausen erschienen und abrufen kann man sie hier. Das Deutsche Theater führt ihre Version von Die Pest mit Kocevski inzwischen wieder live auf (mit Sicherheitsabstand versteht sich) und Karten gibt es hier.