M94.5 Kulturkritik
Anruf von Unbekannt
Die Kultur-Ersatzdroge der Stunde heißt Webstream. Dagegen greift das Residenztheater auf eine ältere Technik zurück: das Telefon. Bei der Reihe Resi ruft an können Interessierte kostenlos einen Termin vereinbaren, bei dem ein Ensemblemitglied telefonisch etwas für sie performt. M94.5-Redakteurin Sarah Fischbacher hat sich anrufen lassen.
Kopfhörer, Handy, Liegestuhl und Garten: Ich bin bereit. Nicht für ein Sonnenbad, sondern für einen Theaterbesuch. Oder zumindest etwas in der Art. Es ist kurz vor 16 Uhr und ich warte nervös darauf, dass mein Handy klingelt. Ich warte auf mein kulturelles Blind Date. Als schließlich der Klingelton ertönt, fällt mir fast das Telefon aus der Hand. Schnell stecke ich meine Kopfhörer ins Ohr und nehme atemlos ab. „Schönen guten Tag, hier Katja Jung vom Residenztheater. Ist das richtig, dass Sie sich für Resi ruft an angemeldet haben?“
Hallo, wer da?
Katja Jung! Zugegeben: Ein Name, der in meinem Kopf nicht sofort ein Gesicht assoziiert. Soll ich sie kurz googlen? Ja, nein, vielleicht? Ich kann es mir nicht verkneifen. Auf der Resi-Website erfahre ich, dass Katja Jung in der aktuellen Spielzeit in Sommergäste und Der starke Stamm mitgewirkt hat. Außerdem habe ich jetzt ein Gesicht zu der mir unbekannten Stimme.
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde, in der ich auch erkläre, dass ich über unser Telefonat für M94.5 berichte, bietet mir Katja das Du an. Eine Erleichterung – so telefoniert es sich doch gleich viel lockerer. Sie erklärt, dass sie zwei Texte für mich zur Auswahl hätte. Einen von Ewald Palmetshofer – einem der wichtigsten deutschsprachigen Gegenwartsdramatiker – über zwei isoliert lebende Menschen, und einen von Duncan Macmillan – einem US-Autor, den ich noch nicht kenne – über Erlebnisse aus der Kindheit. Als ich auswählen darf, wird es kurz seltsam still in der Leitung. Schließlich entscheide ich mich für den zweiten Text. „Ok, den würde ich eh gerne irgendwann einmal aufführen. Warum lieber den?“, will Katja wissen. „Naja, Duncan Macmillan kenne ich nicht. Und ich will gerade lieber nichts über Isolation hören“, antworte ich etwas verspannt.
Mitmachtheater for one
Noch immer bin ich nervös. Warum eigentlich? Ich liebe Mitmachtheater. Ich war das Kind, das am lautesten „Jaaa!“ geschrien hat, wenn früher im Kasperltheater gefragt wurde, ob alle da sind. Und auch heute mag ich gerade ungewöhnliche, experimentelle Theaterformen. Vielleicht ist es dieses Mal die Verlegenheit, nicht in einer Masse untertauchen zu können. Das Publikum bin ich ganz allein. „Schon bemerkenswert: eine Aufführung nur für mich. Aber ist das eigentlich komisch für dich?“, teile ich meine Überlegung mit Katja. „Gar nicht. Ich finde das doch auch schön, dass du mir gerade ganz exklusiv deine Zeit schenkst“, erwidert sie.
All das Schöne
„Gut, dann fange ich jetzt einfach mal an“, sagt Katja dann aber plötzlich und beendet damit meinen Gedankengang. Ich höre wie sie Luft holt und plötzlich ist da eine ganz neue Stimme in der Leitung. Eine Bühnenstimme. „Das mit der Liste fing nach ihrem ersten Versuch an“, wispert sie. Damit beginnt Macmillans Monolog All das Schöne – eine fröhliche Erzählung über ein todernstes Thema.
„Eine Liste mit all dem, was an der Welt schön ist:
1. Eiscreme, 2. Wasserschlachten, 3. Länger aufbleiben dürfen als sonst und fernsehen, 4. Die Farbe Gelb, 5. Sachen mit Streifen, 6. Achterbahnen.
Lauter Sachen, die ich mit sieben total gut fand. Aber Mama nicht unbedingt.“
Duncan Macmillan, All das Schöne
Macmillans Text erzählt von der Figur des namenlosen Erzählers – ob Mann, ob Frau, das macht für den Text eigentlich kaum Unterschied. In unserem Fall ist er ein junges Mädchen, das im Alter von sieben Jahren mit dem ersten Selbstmordversuch seiner Mutter konfrontiert wird. Wie reagiert man als Kind auf so ein Erlebnis? Man schreibt der Mutter eine Liste mit all dem, was an der Welt schön ist. Mit all dem, wofür es sich zu leben lohnt. Man hofft, dass die Mutter die Liste wirklich liest (und nicht bloß die Rechtschreibfehler korrigiert), dass ihre Depression aufhört und das Leben weitergeht.
Ich lache oft, während Katja mir vorliest. Seltsam komisch ist dieser Text, in dem es so viel um Depression und Tod geht. Wenn das Erzähler-Ich seine Liste all der schönen Dinge ergänzt um „Ins Meer pinkeln und keiner merkt’s“, „die Star-Trek-Filme mit geraden Zahlen“ und „mit jemand so vertraut sein, dass man ihn fragt, ob man Brokkoli-Reste zwischen den Zähnen hat,“ muss ich grinsen.
Dennoch schwingt ständig eine leise Traurigkeit mit. Wenn der Vater auf die Frage der Ich-Figur, warum Sie ins Krankenhaus führen, antwortet: „Weil da deine Mutter ist. Weil sie nichts findet, wofür es sich zu leben lohnt. Weil sie sich weh getan hat, weil sie traurig ist“, schnürt es mir das Herz zusammen. Ein bisschen erinnert mich Macmillans Stil an Extrem laut und unglaublich nah von Jonathan Safran Foer, ein Buch, das ich sehr mag.
Mehr als ein Live-Hörbuch
Was mich jedoch aus der narrativen Vorlese-Situation immer wieder plötzlich herausreißt, ist, dass Katja die Regie-Anweisungen mitliest. Das hat sie mir im Vorfeld erklärt: All das Schöne ist ein Stück, das sehr von der Interaktion mit dem Publikum lebt. Es werden Zettel mit Texten unter den Zuschauenden verteilt, die sie auf Zuruf der/des Darstellenden vorlesen. „Hätten Sie was dagegen, der Tierarzt zu sein? Sie müssen gar nicht viel machen“, fragt Katja in den Hörer.
Ich würde das gerne sofort machen, diese ‘Zuschauer*innen-Rolle’ gerne spielen. Geht durch die Telefonleitung halt leider schlecht. Katja liest die Interaktionen der Zuschauenden darum einfach mit. Sie spielt mit ihrer Stimme, lässt sie mal hoch wie die eines Kindes, mal schräg wie die eines Socken-Hundes (was auch immer das sein mag) klingen. Dadurch wird ihre Lesung zu mehr als einem bloßen Hörbuch – das ist tatsächlich Theater für die Ohren.
Wie im Theatersaal geht mir auch bei Resi ruft an das Gefühl für Zeit und die Außenwelt verloren. Meine anfängliche Anspannung ist inzwischen vollkommen verflogen. Als Katja plötzlich sagt: „So, das war’s“, erschrecke ich fast ein bisschen. „Was?! Das ist ja der totale Cliffhanger! So lässt du mich jetzt hier stehen?“, rufe ich ins Telefon. „Ich weiß. Gut, oder?“, lautet Katjas Antwort. Wie es weitergeht, werde ich wohl erst erfahren, wenn Katja All das Schöne tatsächlich im Residenztheater aufführen kann.
Ein Versuch, kreativ zu sein
Damit ist unser Telefonat aber noch nicht zu Ende. Wenn ich schon einmal Katja Jung in der Leitung habe, will ich auch wissen, wie es ihr geht – jetzt, wo all das, was Theater ausmacht, nicht möglich ist. Sie vermisse ihre Arbeit, das Publikum, die Bühne. Natürlich. Wie sie sich gerade kreativ über Wasser halte, will ich wissen. Mit Theateraufführungen via Live-Stream (wie es beispielsweise die Kammerspiele praktizieren) kann sie sich nicht anfreunden. „Das ist ja auch nicht unser Medium“, erklärt sie. Resi ruft an sei für sie aber ein schöner Versuch, den Kontakt zum Publikum zu halten. Sie ergänzt: „Und auch ein Versuch, kreativ zu sein. Das ist schwerer momentan.“
Abschied auf Zeit
Zum Abschluss sage ich Katja, dass sie Intendant Andreas Beck bitte einen schönen Gruß von mir bestellen möchte. Ich verspreche, ich werde im Premieren-Publikum sitzen, wenn All das Schöne im Residenztheater aufgeführt wird, wann auch immer das sein mag – das soll sie ihm bitte sagen. Wir lachen noch einmal, verabschieden uns, Katja legt auf. Kurz warte ich noch, dann nehme ich langsam die Kopfhörer aus den Ohren und stelle fest, dass ich noch immer lächle. Schöne, intime 51:27 Minuten Beinahe-Theater sind vorbei. Vielen Dank für Ihren Anruf und auf Wiederhören.
Neue Termine für Resi ruft an werden jeden Freitag um 10 Uhr auf der Homepage des Residenztheaters freigeschalten. Interessierte können dort ihre Kontaktdaten angeben und einen Wunschtermin auswählen. Neuerdings gibt es das Angebot auch speziell für Kinder von sechs bis zwölf Jahren. Das Angebot ist für Erwachsene wie Kinder kostenlos.