Leben ohne Uhrzeit
Wie ticke ich?
Um acht Uhr beginnt die Arbeit, um zwölf Uhr gibts Mittagessen und um 20 Uhr kommt die Tagesschau. Für viele ist ein Tag ohne Uhrzeit unvorstellbar. Doch längst nicht in allen Ländern richtet man sich nach ihr. Passen wir unser Leben zu sehr an die Uhr an? Und: geht es auch ohne?
“We do what we want, when we want”
Im Sommer 2019 sorgte eine nordnorwegische Insel für Schlagzeilen, die angeblich mit einer Petition die Zeit abschaffen wollte. Demnach wollten die Bewohner*innen von Sommarøy als erste zeitfreie Region der Erde anerkannt werden. Angeführter Hauptgrund dafür: das Phänomen der Mitternachtssonne. In den Sommermonaten geht die Sonne dort knapp 70 Tage nicht unter. Als Folge davon würde auch mal um Mitternacht Fußball gespielt und um vier Uhr morgens das Haus gestrichen. Diese Freiheit wollten sich die Bewohner der Insel durch keine Uhr nehmen lassen.
Werbung mit einem Land ohne Zeit
Tatsächlich waren es in erster Linie nicht die Bewohner der Insel, sondern Mitarbeitende der nationalen Tourismusbehörde „Visit Norway“ und der staatlichen Behörde „Innovation Norway“, die die Petition als eine PR-Aktion starteten, die sogar von der Deutschen Pressagentur als Schlagzeile vermerkt wurde.
Wer keine Uhr kennt
Lebt es sich besser ohne Uhr? Die Vorstellung spricht Expert*innen auf den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Gebieten an. Michael Wieden ist einer von Ihnen. Er beschäftigt sich als Chronobiologe mit der inneren Uhr des Menschen und betont:
“Die Natur selbst kennt keine Uhrzeit, die Natur kennt keine Sekunden, keine Minuten. Der Körper braucht auch keine Uhrzeit um zu funktionieren. Die braucht nur der Mensch.”
Michael Wieden, Chronobiologe
Obwohl es kein Land der Welt ohne Uhrzeit gibt, leben viele Menschen genau diesen außergewöhnlichen Lebensstil. Ohne Uhr Zeit gewinnen, auf die innere Uhr hören und dem Takt des Herzens folgen, ist die Formel vieler Meditationskurse, die auch in München zunehmend angeboten werden. Der Meinung, dass sich wieder auf den eigenen Rhythmus zurückbesinnt werden sollte, ist auch Michael Wieden und betont, dass
“mittlerweile ja immer mehr Fokus auf das Thema Individualisierung gelegt [wird] und genau so sollte man auch mit dem Thema Zeit umgehen, dass wir uns einfach mehr damit beschäftigen, ausgehend von dem Gedanken ‘Wie ticke ich eigentlich?’. Und dann zu schauen, aufgrund der Tatsache, wie ich ticke, meine Arbeit und mein Leben zu gestalten.”
Michael Wieden, Chronobiologe
Gesellschaftliche Verpflichtungen
Gesellschaftliche Strukturen lassen es oft kaum zu, ohne Uhrzeit zu leben.
Vor Allem nicht, wenn andere Personen dabei – beispielsweise im Arbeitsleben – involviert sind. “In der heutigen Zeit hängen wir schon so tief in diesem Zeitkorsett drinnen und haben unsere ganze Lebenssituation darauf abgestimmt”, meint Michael Wieden. Den Alltag zu entschleunigen kann aber trotzdem funktionieren. Wenn man den eigenen Bedürfnissen wieder mehr Beachtung schenkt und sich fragt: Wann bin ich wirklich müde und wann knurrt mir der Magen? Wann stehe ich auf? “Man braucht keinen Wecker, wenn man nach der inneren Uhr schläft”, betont Prof. Dr. Roenneberg, Chronobiologe an der LMU.
Quarantäne als Selbsthinterfragung
Ganz ohne Zeit zu leben funktioniert trotzdem nicht, denn auch die Natur arbeitet mit Rhythmen, meint Prof. Dr. Roenneberg. Alle Zellen unseres Körpers richten sich nach einem ungefähren 24-Stunden-Schema, welches wir als innere Uhr kennen. In der Zeit, die jetzt gezwungenermaßen zuhause verbracht werden muss, eröffnet sich aber die Möglichkeit, wieder besser auf den eigenen Körper und die innere Uhr zu hören.