Filmklassiker der Woche
Chihiros Reise ins Zauberland
Es gibt Kunstwerke, die nur durch die Augen von Kindern gesehen ihre ganze Kraft entfalten. Denn oft fehlt es einem in Erwachsenen Jahren an Fantasie oder Begeisterungsfähigkeit, die man als Heranwachsender noch für Kinder und -Jugendliteratur oder Filme aufbringen kann. Eine absolute Ausnahme stellt in diesem Kontext das Zeichentrick-Meisterwerk Chihiros Reise ins Zauberland von Hayaho Miazaki dar. Der Film aus dem Jahr 2001 entwickelte sich nicht nur kurz nach Veröffentlichung in Japan zum erfolgreichsten Film aller Zeiten, sondern gilt bei vielen Kritikern als großer Klassiker des asiatischen Trickfilms und behandelt Themen, die heute mindestens genau so aktuell sind wie damals – vor 19 Jahren.
Damals, als Chihiros Reise ins Zauberland in die Kinos kam, gehörte das Produktionsstudio Studio Ghibli in Japan bereits zu den wichtigsten Filmschmieden des Landes. Mit Prinzessin Mononoke und Mein Nachbar Totoro hatte Ghibli-Mastermind Hayaho Miazaki bereits in den 1990er Jahren auch im Westen auf sich aufmerksam machen können. Im Vergleich zu diesen Filmen besitzt Chihiro aber tatsächlich eine eher westliche Erzählstruktur und setzt sich nur oberflächlich gesehen mit rein traditionell japanischen Thematiken auseinander.
Allein in einer anderen Welt
Schon die Rahmenhandlung erinnert an ein Märchen aus dem Westen: Die zehnjährige Chihiro befindet sich mit ihren Eltern auf einer langen Autofahrt in eine neue Stadt. Als sich die Familie verfährt, landen sie vor einem geheimnisvollen Tor, dass über ein trockenes Flussbett zu einer Art verlassenen Geisterstadt führt. Dort finden sie ein leerstehendes Restaurant vor, in welchem sich die Eltern gierig auf das herumstehende Essen stürzen, wärend Chihiro besorgt die Gegend erkundet. Sie trifft auf den Jungen Haku, der sie warnt und dazu drängt, den Ort vor Sonnenuntergang zu verlassen. Als sie zurück bei ihren Eltern ankommt, muss sie jedoch mit Entsetzten feststellen, dass sich diese in der Zwischenzeit in mächtige Schweine verwandelt haben. Erneut kommt ihr Haku zu Hilfe und rät ihr, sich im Badehaus der Hexe Yubaba Arbeit zu suchen. Yubaba nimmt sie als Putzkraft in ihrem Spa voller Geister und Gespenster an, doch mithilfer ihrer Magie stiehlt sie einen Teil von Chihiros Namen. Haku mahnt Sie, dass sie nie ihren vollen Namen vergessen darf, wenn sie je wieder mit ihren Eltern in die Welt der Menschen zurückkehren will.
Aus dieser Exposition heraus spinnt Regisseur Myazaki einen grandios fantasievollen Animationsfilm, der einen sofort in seinen Bann zieht. Seien es die wunderschön kreativen Designs und Animationen der Geister und Monster, auf die Chihiro trifft, die stimmungsvolle und melancholische Musik oder die fantastischen, liebenswerten Charaktere: Alles an diesem Film trägt zu einer einmaligen Stimmung bei, die sich im Verlauf der Geschichte von traurig und melancholisch über euphorisch bis hin zur Nostalgie entwickelt und den Zuschauer konstant fesselt. Dabei erleben wir mit Chihiro die Reise durch die Augen einer Protagonistin, die im Vergleich zu anderen Jugendfilmen eine außergewöhnlich selbstständige und reflektierte Frauenfigur darstellt und bis zum Ende des Films eine Charakterentwicklung durchmacht, die in ihrer Tiefgründigkeit und Emotionalität in westlichen Produktionen nur selten zu sehen ist.
Aktuell wie eh und je
Auch heute noch beeindruckt außerdem die thematische Vielfalt und deren Tiefgang, die man in Chihiro finden kann. Auffällig ist besonders die Konsum-und Kapitalismuskritik, die durch die sklavenartigen Arbeitsverhältnisse im Badehaus und den Identitäts-Diebstahl durch die Hexe Yubaba zum Vorschein kommt. Doch auch Themen wie Umweltverschmutzung, den Einfluss der westlichen Welt auf das industrialisierte Japan und auch der Tod werden so gefühlvoll wie demütig mit Fragen über Freundschaft, Liebe und Zugehörigkeit verwoben, dass Chihiros Reise ins Zauberland auch kleine Kinder zum reflektieren anregt.
Bis heute ist Chihiro der einzige handgezeichnete und nicht-englischsprachige Animationsfilm, der einen Oscar gewinnen konnte. Und nicht nur bei der Academy, sondern in der ganzen Welt ebnete der Erfolg des Films den Weg zu einer größeren Begeisterung für das Trickfilm-Genre sowie einer stärkeren Akzeptanz dem asiatischem Kino gegenüber. Nicht umsonst trägt der Film im englischen Sprachraum den Namen Spirited Away. Sich in einer andere Welt wegtragen lassen, dass schafft Chihiros Reise ins Zauberland seit nun gut 19 Jahren bei sowohl Kindern wie Erwachsenen, und entführt in eine Welt, der man, im Gegensatz zu Chihiro, gar nicht mehr entkommen will.
Chihiros Reise ins Zauberland gibt es auf Netflix zu sehen.